Emschergenossenschaft und Lippeverband lassen ihre NS-Vergangenheit aufarbeiten
Die Emschergenossenschaft und der Lippeverband (EGLV) haben ihre Vergangenheit, insbesondere während der Zeit des Nationalsozialismus, wissenschaftlich aufarbeiten lassen. Die Forschungen übernahmen Historiker der Ruhr-Universität Bochum (RUB). Das Forschungsprojekt ist nun weitestgehend abgeschlossen: Am Freitag wurden die Ergebnisse auf einem fachspezifischen Symposium im Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen öffentlich vorgestellt und diskutiert. Zu Jahresbeginn 2020 ist die Veröffentlichung der Ergebnisse als Buch vorgesehen.
Seit 2017 erforschte ein Team der Professur für Zeitgeschichte die Geschichte von EGLV von 1930 bis 1960. Die Studie ging vor allem der Frage nach, was es bedeutet, dass eine vermeintlich unpolitische Infrastrukturorganisation sich in immer wieder neuen politischen Herrschaftssystemen verorten musste. Dabei steht auch die Mitverantwortung für Verbrechen des Nationalsozialismus im Fokus.
„Kurzgefasst ist die zentrale Erkenntnis die folgende: Auch Emschergenossenschaft und Lippeverband haben „mitgemacht“ und NS-konform gehandelt. So wurden auf den Baustellen der Verbände Zwangsarbeiter beschäftigt. Zudem haben die Nachforschungen gezeigt, dass auch in unserem Hause Kolleginnen und Kollegen von rassistischen und politischen „Säuberungsprozessen“ betroffen waren“, sagt Prof. Dr. Uli Paetzel, Vorstandsvorsitzender von Emschergenossenschaft und Lippeverband.
Forschungslage
Die Aufarbeitung der eigenen Geschichte, so Paetzel, sei geboten gewesen, da die bisherige Forschungslage zur EGLV-Vergangenheit während der NS-Zeit nur sehr unbefriedigend gewesen sei. „Nicht nur vor dem aktuellen Hintergrund, dass die demokratische Grundstruktur nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa massiv bedroht wird, sondern als Bekenntnis zu Freiheit und Demokratie ist die Aufarbeitung geboten“, sagt Paetzel und bezieht sich auf das Diktum des Philosophen Adorno, dass alles getan werden müsse, dass Auschwitz sich nicht wiederhole.
Das Team der RUB – Prof. Dr. Constantin Goschler, Dr. des. Eva Balz, Christopher Kirchberg – hat für die Studie in zahlreichen Archiven recherchiert, u.a. im Bergbauarchiv (Bochum), im Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv (Köln), im Westfälischen Wirtschaftsarchiv (Dortmund), Im Landesarchiv Rheinland (Duisburg), im Landesarchiv Westfalen (Münster), im Bundesarchiv (Berlin), im Bundesarchiv (Koblenz), im Geheimen Preußischen Staatsarchiv (Berlin, in den National Archives (London) sowie im eigenen Foto-Archiv von Emschergenossenschaft und Lippeverband.
Ausgehend von den Archivrecherchen konnte eine umfassende Einbeziehung und Mobilisierung von EGLV in die organisierten (Zwangs-)Arbeitswelten des Nationalsozialismus der Vor- bzw. Kriegszeit nachgewiesen werden, die in der Nachkriegszeit aufgrund einer hohen Personalkontinuität weitgehend dethematisiert wurden. In diesem Zusammenhang konnten Dokumente ermittelt werden, die neue und fundierte Erkenntnisse über die Geschichte der EGLV von den 1930er- bis in die 1960er-Jahre ermöglichen:
1. Organisation von Arbeit im NS: Beschäftigung von Zwangsarbeitern
Es konnte nachgewiesen werden, dass auf den Baustellen von EGLV umfassend zivile ausländische Arbeiter und Kriegsgefangene eingesetzt wurden. Diese waren nicht bei den Wasserverbänden selbst, sondern bei den von ihnen beauftragten Subunternehmern angestellt – was erklärt, dass offiziell keine Zwangsarbeiter für EGLV tätig waren. Eine Verantwortung bestand dennoch, schließlich fällten die Verbände Entscheidungen darüber, mit welchen Firmen sie zusammenarbeiteten.
Teilweise waren von Emschergenossenschaft und Lippeverband Arbeitslager eingerichtet worden, die von den beauftragten Baufirmen betrieben wurden. Möglich wurde dieser Nachweis aufgrund eines Rechtsstreits über die Kostenübernahme für ein im Auftrag von EGLV zwischen 1942 und 1944 durch ein Bauunternehmen betriebenes Außenlager mit französischen bzw. sowjetischen Kriegsgefangenen. Vermutlich nur, weil sich über die Abrechnung ein Rechtsstreit zwischen der EGLV und dem Bauunternehmen ergab, der sich von Mai 1945 bis ins Jahr 1946 zog, überdauerte diese umfangreichen Projektdokumentation die (Nach-)Kriegszeit.
2. Kontinuitäten nach 1945: „Entnazifizierungsakten“
Anhand einzelner Biographien des Führungspersonals der EGLV konnten Fragen der personellen Kontinuitäten und Brüche vor und nach 1933 bzw. 1945 untersucht werden. Hierfür eigneten sich in besonderem Maße Entnazifizierungsakten, die wie zum Beispiel im Fall des im Jahr 1934 eingesetzten und bis weit in die Nachkriegszeit tätigen EGLV-Baudirektors Alexander Ramshorn Aufschluss über persönliches Engagement in der Zeit des Nationalsozialismus geben.
Auch die Einschätzungen der britischen Besatzer und ihre Motivationen, auch „belastete“ Personen auf ihren Stellen zu belassen, konnten mit diesen Dokumenten rekonstruiert werden. In Ramshorns Fall war beispielsweise die Mitgliedschaft in der NSDAP und mehreren ihrer Organisationen bekannt. Aufgrund strategischer Erwägungen der Briten konnte der Baudirektor dennoch im Amt verbleiben, wo er die Geschichte der EGLV in den Nachkriegsjahrzehnten entscheidend prägte.
3. Umgang mit der NS-Vergangenheit: Überlieferungslücken und ein „Zufallsfund“
Auffällig war bei den Recherchen, dass kaum Dokumente aus der Zeit des Nationalsozialismus in der internen Überlieferung vorhanden sind. Inwieweit diese Lücke sich mit Bombentreffern auf das Hauptgebäude der Emschergenossenschaft im Herbst 1944 erklären lässt oder ob eine bewusste „Säuberung“ der Akten nach 1945 stattgefunden hat, kann nicht abschließend geklärt werden. Die Funde deuten jedoch auf Letzteres hin: So konnte bei der Durchsicht ein Dokument ausfindig gemacht werden, dass zusammengefaltet in einer sachfremden Projektakte eingeklebt eine offizielle Stellungnahme Ramshorns an die Wehrkreisverwaltung über die Anzahl der von EGLV eingesetzten jüdischen und polnischen Kriegsgefangenen bei einem Bauprojekt enthält.
Dies zeigt nicht nur, dass Zwangsarbeiter systematisch eingesetzt wurden, sondern lässt zugleich vermuten, dass eine umfassende „Aktensäuberung“ nach 1945 in den Generalakten-Beständen der EGLV stattgefunden hat.
„Insgesamt zeigen die Forschungsergebnisse, dass das Verhalten der Verbände im Nationalsozialismus nicht ideologisch motiviert, sondern vielmehr von einem Drang nach Selbsterhaltung getrieben war. Dennoch stützte es damit verlässlich die rassistische und gewalttätige Politik des „Dritten Reiches“, fassen Balz und Kirchberg zusammen.
Umgang mit den Ergebnissen
Emschergenossenschaft und Lippeverband stellen sich ihrer Verantwortung. Daher wollen es die Verbände nicht nur bei diesem Symposium belassen. Im kommenden Jahr ist die Veröffentlichung der Ergebnisse durch das RUB-Team als Buch vorgesehen. Zudem soll ein Schild künftig am Emscher-Haus, der Hauptverwaltung der Verbände im Essener Südviertel, auf die Taten während der NS-Zeit hinweisen. Ein im Gebäude befindliches Porträt von Alexander Ramshorn soll mit einer einordnenden Kommentierung versehen werden. „Das Porträt wird nicht entfernt, sondern eingeordnet, als Mahnung für die Nachwelt“, so Paetzel. Darüber hinaus überlegen Emschergenossenschaft und Lippeverband zurzeit unter engagierter Beteiligung der gesamten Belegschaft, wie im Verbandsgebiet an die NS-Vergangenheit erinnert werden kann, bspw. an entsprechenden Stellen entlang der Emscher und mittels Kunstprojekten.
Einen großen Dank sprach Prof. Paetzel am Freitag den Forschenden der Ruhr-Universität Bochum für die akribische Recherche und Aufarbeitung der Ergebnisse aus.
Die Emschergenossenschaft und der Lippeverband
Emschergenossenschaft und Lippeverband sind öffentlich-rechtliche Wasserwirtschaftsunternehmen, die effizient Aufgaben für das Gemeinwohl mit modernen Managementmethoden nachhaltig erbringen und als Leitidee des eigenen Handelns das Genossenschaftsprinzip leben.
Die Aufgaben der 1899 gegründeten Emschergenossenschaft sind unter anderem die Unterhaltung der Emscher, die Abwasserentsorgung und -reinigung sowie der Hochwasserschutz. Der 1926 gegründete Lippeverband bewirtschaftet das Flusseinzugsgebiet der Lippe im nördlichen Ruhrgebiet und baute unter anderem den Lippe-Zufluss Seseke naturnah um.
Gemeinsam haben Emschergenossenschaft und Lippeverband rund 1600 Mitarbeiter und sind Deutschlands größter Abwasserentsorger und Betreiber von Kläranlagen (rund 740 Kilometer Wasserläufe, rund 1320 Kilometer Abwasserkanäle, rund 350 Pumpwerke und fast 60 Kläranlagen).
Autor:Siegfried Schönfeld aus Marl |
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