WSI-Arbeitskampfbilanz
2023 STREIKINTENSIVES JAHR

Bild: wewahn Pixabay Content License

2023 war im Vergleich der vergangenen zwei Jahrzehnte in Deutschland ein konfliktintensives Jahr. Sowohl die Zahl der Arbeitskämpfe als auch die durch Streiks ausgefallenen Arbeitstage haben sich gegenüber 2022 deutlich erhöht. Wichtige und öffentlich stark beachtete Arbeitskämpfe zogen sich über Monate hin, zum Teil bis ins Jahr 2024. Gleichwohl blieb sowohl die Zahl der Streikteilnehmer*innen, als auch die Anzahl der ausgefallenen Arbeitstage unter dem Höchststand von 2015.

Bei einzelnen Kenngrößen weisen auch noch einige andere Jahre seit 2006 überdurchschnittliche Werte auf. 

Das zeigt die neue Arbeitskampfbilanz 2023,

die das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung heute vorlegt. Auch 2024 dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit „eher ein arbeitskampfintensives Jahr werden“, schreiben die Forschenden. Ob dabei die Werte des abgelaufenen Jahres übertroffen werden, sei aber durchaus noch offen. Viel werde vom Verlauf der Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie im Herbst abhängen. Im internationalen Vergleich bewegt sich Deutschland „trotz zunehmender Arbeitskämpfe immer noch lediglich im unteren Mittelfeld“, analysieren die Wissenschaftler*innen. In Ländern wie Belgien, Frankreich, Finnland, Kanada oder Dänemark ist das relative Arbeitskampfvolumen um ein Mehrfaches höher. So fielen beispielsweise nach den neuesten vorliegenden Zahlen pro 1000 Beschäftigte im mehrjährigen Mittel in Belgien 103 Arbeitstage pro 1000 Beschäftigte aus, in Kanada 83 und in Dänemark 53. In Deutschland waren es 18 (Details unten und Abbildung 2 in der PDF-Version).

Durch die außergewöhnlich starke Inflation und dadurch verursachte Reallohnverluste war „eine Konstellation vorgegeben, die für die Tarifverhandlungen im Jahr 2023 auf eine besonders hohe Konfliktintensität hindeutete“,

skizzieren die WSI-Fachleute Dr. Heiner Dribbusch, Prof. Dr. Thorsten Schulten, Marlena-Sophie Luth und Thilo Janssen den besonderen Hintergrund der aktuellen Tarifpolitik. Im Kern ging es 2023 um die Frage, „wie die Kosten der Inflation zwischen Kapital und Arbeit verteilt werden sollen“ – und das in einer Situation, in der die demografische Entwicklung in vielen Bereichen die Position von Arbeitnehmer*innen stärke. Für 2023 haben die Studienautor*innen insgesamt 312 Arbeitskämpfe ermittelt – 87 mehr als 2022. Rechnerisch fielen dadurch 1.527.000 Arbeitstage aus – mehr als doppelt so viele wie 2022. Etwas anders sah hingegen die Entwicklung bei der Streikbeteiligung aus: Wurden 2023 über alle Arbeitsniederlegungen hinweg insgesamt 857.000 Streikteilnehmer*innen gezählt, waren es 2022 rund 930.000 gewesen.

Zum Vergleich:

2015 war das arbeitskampfintensivste Jahr seit Beginn der eigenständigen WSI-Arbeitskampfstatistik im Jahr 2006. 2015 streikten laut WSI-Analyse mehr als 1,13 Millionen Menschen, dabei fielen gut zwei Millionen Arbeitstage in 135 Arbeitskämpfen aus. Noch höher dürfte die Arbeitskampfintensität Mitte der 1970er und 1980er Jahre gewesen sein. Dass Deutschland 2023 und auch im ersten Halbjahr 2024 von Teilen der Öffentlichkeit gleichwohl als 

Streikrepublik

wahrgenommen wurde, liege vor allem daran, dass die Auswirkungen mehrerer Arbeitskämpfe unmittelbar im Alltag vieler Menschen zu spüren waren, wie die Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst, im Nahverkehr, an den Flughäfen und bei Post und Bahn, so die Forschenden. Wie konfliktreich eine Tarifauseinandersetzung ablaufe, hänge allerdings keineswegs allein von den Gewerkschaften ab, sondern mindestens ebenso von der „Entschlossenheit und Kompromissbereitschaft der Arbeitgeberseite“. Die Haltung von Arbeitgebern habe 2023 und in der ersten Jahreshälfte 2024 stellenweise erheblich zur Eskalation beigetragen.

Das prägte nach der WSI-Analyse auch einige weitere große Tarifrunden, die weniger im Mittelpunkt standen, wie etwa der über 13 Monate laufende Arbeitskampf im Handel oder die seitens der Arbeitgeber durch deren Ablehnung eines Schlichtungsergebnisses provozierten Streiks im Bauhauptgewerbe. Das gleiche gilt für eine Vielzahl von Auseinandersetzungen um Haustarife.

Diese auf einzelne Betriebe und Firmen beschränkten, häufig eher kleineren, Auseinandersetzungen machten auch 2023 wieder die große Mehrheit der Arbeitskämpfe aus. Oft sei das Ziel gewesen, Unternehmen zum Anschluss an bestehende Branchentarifverträge zu bewegen, nicht selten ging es aber auch darum, überhaupt eine Tarifbindung zu erreichen. Als prominentes Beispiel hierfür nennt der WSI-Report den dänischen Windanlagenhersteller Vestas, bei dem erst nach 123 Streiktagen erstmals ein Tarifabschluss gelang. Noch länger, nämlich 180 Tage, dauerte der Arbeitskampf bei der Schrott- und Recyclingfirma SRW metalfloat in Sachsen. SRW, das zu einem chinesischen multinationalen Konzern gehört, reagierte auf Arbeitsniederlegungen mit Aussperrungen – eine seit Jahrzehnten in Deutschland kaum noch praktizierte Eskalation. Der Arbeitskampf endete im Mai 2024 ohne Tarifabschluss. Der WSI-Arbeitskampfbericht analysiert diese und weitere wichtige Arbeitskämpfe des Jahres 2023 ausführlicher.

Die Tarifpolitik

stand und steht seit gut zwei Jahren vor besonderen Herausforderungen. Es sollte nicht überraschen, dass in einer Situation mit der höchsten Inflation seit Jahrzehnten Beschäftigte den Anspruch haben, ihre Reallohnverluste zu begrenzen und dann ihre Kaufkraft wieder zu stärken. Indem auch durch Streiks entsprechende Lohnerhöhungen durchgesetzt werden können, scheint das nun in mehreren Schritten zu gelingen, und das bringt auch positive gesamtwirtschaftliche Impulse, wie sich am langsam wieder anziehenden Konsum der privaten Haushalte zeigt“, sagt der Leiter des WSI-Tarifarchivs, Prof. Dr. Thorsten Schulten. „Auch wenn die Arbeitskämpfe den Alltag einer Menge Menschen zeitweilig belastet haben, zeigen gerade die vergangenen anderthalb Jahre, dass Tarifautonomie funktioniert“, so Schulten.

Aktuelle Forderungen nach

Einschränkung des Streikrechts

könnten leicht bis zu 50 Prozent aller Beschäftigten betreffen
Die wissenschaftliche Direktorin des WSI, Prof. Dr. Bettina Kohlrausch, wertet die hohe Streikbeteiligung auch „als ein positives Zeichen, dass sich wieder mehr Beschäftigte in den Gewerkschaften engagieren. Wie verschiedene Studien aus dem WSI gezeigt haben, fördert ein solches Engagement das Zutrauen, die eigenen Arbeits- und Lebensbedingungen positiv beeinflussen zu können und stärkt damit nicht zuletzt auch die Demokratie in Deutschland.“ Forderungen, das Streikrecht einzuschränken, seien demgegenüber verfassungsrechtlich hoch problematisch und gingen politisch und wirtschaftlich in die falsche Richtung.

Im internationalen Vergleich ist das Streikrecht in Deutschland ohnehin relativ restriktiv, macht die WSI-Arbeitskampfanalyse deutlich. Politische Streiks sind in vielen europäischen Ländern möglich. Hierzulande sind sie dagegen weitestgehend ausgeschlossen. Aktuelle Forderungen, durch neue Gesetze generell das Streikrecht in der „kritischen Infrastruktur“ einzuschränken, könnten leicht 40 bis 50 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland betreffen, denn „je nach konkreter Definition und genauer Abgrenzung“ könne der Sektor entsprechend groß gefasst werden, schreiben Dribbusch, Schulten, Luth und Janssen. Schon die quantitative Dimension mache deutlich, dass es hierbei um einen massiven Eingriff ins Streikrecht geht, der darauf abziele, die Verhandlungsposition der Beschäftigten erheblich zu schwächen. Notdienstregelungen sind in existenziellen Bereichen der Infrastruktur, etwa an Krankenhäusern, längst Standard.

Autor:

Siegfried Schönfeld aus Marl

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