Tierische Therapeuten aktivieren Kuschelhormon
Frühmorgens an einem ganz normalen Wochentag: Die Sonne ist aufgegangen, die Bäume der Haard werfen erste Schatten, und vom Gelände der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marl ertönt lautes Eselsgeschrei. Friedemann, einer der insgesamt 30 tierischen „Therapeuten“ hier, hat Hunger.
Im zwei Hektar großen Tiergehege herrscht bereits reger Betrieb. Immerhin wollen neben Friedemann noch 29 weitere hungrige Mäuler gestopft werden. Als da wären Heidschnucken, Ziegen, Meerschweinchen, Kaninchen und Damwild. „Von einem solchen therapeutischen Angebot können viele andere Kliniken nur träumen“, schwärmt Petra Wiethoff, Fachtherapeutin für tiergestützte Therapie an der Klinik des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL).
Im und am Gehege ist täglich jede Menge zu tun. Und das lässt aus den Reihen der jungen Patienten viele überzeugte Aktivisten hierher kommen: „Eigentlich bin ich ja faul. Aber für die Tiere tue ich alles!“ Solche Bekenntnisse der Kinder und Jugendlichen hören Petra Wiethoff und ihre Kollegin Dorothea Dapper, ebenfalls Therapeutin für tiergestützte Therapie, häufiger. „Über den Umgang mit Tieren öffnen sich uns selbst hartnäckigste Fälle von seelischen Verwundungen“, sagen die beiden Fachfrauen.
„Zu uns kommen junge Patienten mit ganz unterschiedlichen Erkrankungen“, berichtet Sozialarbeiterin Dapper, „manche sind traumatisiert, haben Suizidgedanken, zeigen aggressives Verhalten und wieder andere weisen eine ADHS auf“, eine so genannte Aufmerksamkeits-Defizit/Hyperaktivitätsstörung. Gemeinsam sei allen, dass sie Schwierigkeiten haben, in angemessenen Kontakt mit anderen Menschen zu treten. Hier erweisen sich Heidschnucke Hanni und ihre vierbeinigen Freunde als verlässliche Co-Therapeuten. Dapper: „Sie sind unsere Eisbrecher. Über die Tiere kommen wir an die Patienten heran und können mit ihnen arbeiten.“
Junge Patienten blühen auf
Der große Vorteil beim therapeutischen Einsatz von Tieren liege in „deren Unvoreingenommenheit und Authentizität“, sind sich die Therapeutinnen einig. „Esel Friedemann ist es egal, ob sein Gegenüber dick oder dünn, klein oder groß ist.“ Gerade junge Patienten, die zum Beispiel Opfer von Mobbing-Attacken waren oder Kontakte meiden, weil sie durch ihre Magersucht erschreckend dünn sind oder sich ihrer selbst zugefügten Verletzungen schämen, genießen das und blühen häufig auf, berichten die Mitarbeiterinnen.
Dabei gebe es für fast jede Erkrankung das passende Tier: „Damwild setzen wir gerne bei ADHS-Patienten ein“, so Wiethoff, „denn unsere Rehe sind sehr scheu, wie auch unsere Meerschweinchen. Da ist Ruhe und Geduld gefragt. Fähigkeiten, auf die sich viele Kinder und Jugendliche erst wieder besinnen müssen.“
Verschiedene Erkrankungen, verschiedene Tiere
Ganz anders ist die Arbeit mit Eseln. Diese Vierbeiner sind sehr zutraulich, gehen auf Menschen zu, reagieren ganz stark auf Ansprache und wollen gestreichelt werden. Das sei sehr wichtig etwa für traumatisierte Patienten, so Wiethoff.
Alleine durch den taktilen Kontakt, wie Fachleute das Streicheln nennen, stößt das Gehirn vermehrt Oxitozin aus. Dieses so genannte Kuschelhormon senkt den Blutdruck und den Pegel des Stresshormons Cortisol, wie Untersuchungen belegen.
„Bei den Tieren kann ich mich endlich mal entspannen“, bringt eine unter Selbsttötungsgedanken leidende junge Patientin ihre Gefühle auf den Punkt. „Zu erfahren, dass sie Gutes tun, etwas bewirken können - das ist gerade für diese Patienten sehr wichtig“, erklärt Dapper. „Reframing“ (Umdenken, Umdeuten) ist dafür der Fachbegriff: Zu lernen, dass nicht immer alles schief geht, auch wenn manches nicht gleich beim ersten Mal klappt.
Auch an diesem Tag wird, wie vor jeder Therapiestunde, erst gemeinsam besprochen, was ansteht.
Das wird heute ein Spaziergang mit den Eseln und das Ausmisten der Ställe sein. „Wichtig ist, den Patienten nicht zu überfordern und trotzdem das Therapieziel nicht aus den Augen zu verlieren“, weiß Petra Wiethoff.
Hintergrund:
Derzeit herrscht großer Auftrieb in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL): Rund 30 Experten auf dem Gebiet der Tiergestützten Intervention aus dem In- und Ausland und fast 50, die es noch werden wollen, treffen sich seit kurzem regelmäßig in Marl zum gemeinsamen Lehren und Lernen. Der Grund ist eine 16-monatige Weiterbildungsmaßnahme zur „Fachkraft für Tiergestützte Intervention“.
Autor:Lokalkompass Marl aus Marl |
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