200 Jahre Westfalen: Vom Flickenteppich zur politischen Einheit
Westfalen feiert in diesem Jahr seinen 200. Geburtstag: Mit der Konstituierung der preußischen Provinz Westfalen während des Wiener Kongresses 1815 wurde der Flickenteppich der westfälischen Territorien dem Königreich Preußen zugeschlagen. Fernab gängiger Bilder wie Schinken und Pumpernickel, Hermannsdenkmal und Wasserburgen oder wogenden Kornfeldern vor Zechentürmen war und ist die Region in den vergangenen 200 Jahren von zahlreichen Besonderheiten und Gegensätzen geprägt. Dazu zählten immer wieder auch politische, konfessionelle und soziale Konflikte.
"Gegensätze ziehen sich an", sagt der Volksmund. Westfalen müsste dem Sprichwort nach besonders eng verbunden sein. Denn die 200-jährige Geschichte der Region wird von zahlreichen Gegensätzen bestimmt: religiöse, politische und soziale Umbrüche, agrarisch-ländliche Idylle auf der einen, industriell geprägte Großstädte und Zuwanderung auf der anderen Seite, sprich große räumliche und lebensweltliche Kontraste. Die Umwälzung Europas durch die napoleonischen Kriege und den Wiener Kongress von 1814/15 hatten die politische Einheit Westfalens zur Folge. Indes bestehen die Ungleichheiten innerhalb der noch jungen Region bis heute fort.
Auf dem politischen Sektor war Westfalen zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Konglomerat aus sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen, sozialen, konfessionell-kulturellen und politischen Teilregionen, die durch einen politischen Akt - der preußischen Provinzgründung 1815 - zusammengefügt wurden. Trotz eines einheitlichen Verwaltungsaufbaus und später einer politischen Stimme bleiben bis heute die unterschiedlichen Landstriche in ihrer ehemaligen Eigenständigkeit und ihrem Selbstverständnis erkennbar. "Heute ist Westfalen eher ein Sammelbegriff, der vor allem durch populäre Selbst- und Fremdzuschreibungen eine gewisse Einheitlichkeit erhält", sagt Dr. Karl Ditt, Historiker am LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte und Mitautor des Bandes "Westfalen in der Moderne 1815-2015. Geschichte einer Region". Diese Heterogenität sorgte für Spannung zwischen Region und Zentren.
Eine starke Industrialisierung kennzeichnete die Wirtschaft in Westfalen. Für das 19. Jahrhundert und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wird ein wirtschaftlicher Aufstiegsprozess deutlich, der vom Bergbau sowie von der Eisen-, Stahl- und Textilindustrie vorangetrieben wird. Seit den 1950er Jahren ließ die Wachstumskraft dieser Trägerbranchen jedoch deutlich nach. "Die wirtschaftlichen Wellenbewegungen gingen in hohem Maße auf das Schwergewicht des Ruhrgebiets zurück. Die Wirtschaft in Westfalen entwickelte sich vom Vorreiter zum Nachzügler", führt Ditt aus. Erst Anfang des 21. Jahrhunderts fand die Region wieder Anschluss innerhalb der Bundesrepublik Deutschland. Im Vergleich zum Ruhrgebiet haben der märkische Raum, Minden-Ravensberg, das Hochsauerland und das Münsterland den Strukturwandel vergleichsweise erfolgreich bewältigt, so Ditt.
Die Gesellschaft in Westfalen war von unterschiedlichen Veränderungsprozessen im 19. und 20. Jahrhundert geprägt. Durch den Ausbau der Infrastruktur - Verkehr, Energieversorgung und Kommunikation - rückten die Gesellschaften in Stadt und Land enger zusammen. Der drastische Rückgang der landwirtschaftlichen Bevölkerung einerseits und die Aussiedlungsbewegung von Wirtschaft und Bevölkerung aus den Städten andererseits trugen nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich zum Zusammenwachsen bei. "Das Ausmaß der Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft ließ deutlich nach. Auch der Anteil derjenigen, die von der Hand in den Mund leben mussten, ging zurück", verdeutlicht der LWL-Historiker. Insbesondere nach Gründung der Bundesrepublik erfolgte eine Zunahme der sozialen Absicherung, des Einkommens, des Vermögens und des Lebensstandards. Die rechtliche, wirtschaftliche und soziale Stärkung der Frauenrolle trug seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu diesen Nivellierungsprozessen ebenfalls wesentlich bei. So nahm die Frauenerwerbsquote in der Region zwischen 1882 und 1982 von 37,5 auf 54,4 Prozent zu.
Die Antimoderne bestimmte lange Zeit die kulturelle Entwicklung Westfalens. Denn bis in die 1950er Jahren war die Moderne in Literatur, Kunst, Architektur und Musik relativ schwach vertreten. Das lange Fehlen von Akademien, Universitäten und sonstigen bedeutenden Ausbildungsstätten, der Mangel an Metropolen mit einem breiten Publikum sowie die lange Orientierung der provinziellen Kulturpolitik an der Förderung der Heimatkultur sind Ursachen für dieses Defizit. "Die Kultur der Antimoderne wurde durch eine starke kirchliche Prägung in Westfalen ergänzt", sagt Ditt und fügt hinzu: "Zu der intensiven Ausprägung der religiösen Volkskultur kam die enge Verbindung zwischen Heimatbewegung und Provinzial- beziehungsweise Landschaftsverband." Erst seit den 1970er Jahren begann mit der Verbreitung der Massenkultur die zunehmende Tolerierung der Moderne im westfälischen Raum.
Hintergrund
2015 jährt sich die Konstituierung der preußischen Provinz Westfalen zum 200. Mal. Damit wurde erstmals ein politischer Raum mit klaren Grenzen, einer einheitlichen Verwaltungsorganisation und später einer politischen Stimme geschaffen. Das Gründungsjahr geht auf die Vereinbarungen des Wiener Kongresses zurück, der nach zwei Jahrzehnten Krieg und der Niederlage Napoleons eine territoriale Neuordnung Europas festlegte. Einen Tag nach seiner Schlussakte, am 10. Juni 1815, wurde die territoriale Neuordnung bestätigt. Bereits am 30. April 1815 hatte der preußische Staat die neue Organisation der Provinz Westfalen beschlossen. Dies ist der Beginn der Gründungsphase, die bis 1817 andauerte. Mit der Gründung Nordrhein-Westfalens am 23. August 1946 wurde die Provinz Westfalen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgelöst und die Region zum Landesteil.
Autor:Siegfried Schönfeld aus Marl |
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