Unwort des Jahres 2013: Sozialtourismus
Im letzten Jahr ist die Diskussion um erwünschte und nicht
erwünschte Zuwanderung nach Deutschland wieder aktuell geworden.
In diesem Zusammenhang wurde von einigen Politikern und Medien mit dem
Ausdruck „Sozialtourismus“ gezielt Stimmung gegen unerwünschte Zuwanderer, insbesondere aus Osteuropa gemacht.
Das Grundwort „Tourismus“ suggeriert in Verdrehung der offenkundigen Tatsachen eine dem Vergnügen und der Erholung dienende Reisetätigkeit
.Das Bestimmungswort „Sozial“ reduziert die damit gemeinte Zuwanderung auf das Ziel, vom deutschen Sozialsystem zu profitieren. Dies diskriminiert Menschen, die aus purer Not in Deutschland eine bessere Zukunft suchen, und verschleiert ihr prinzipielles Recht hierzu.
Der Ausdruck „Sozialtourismus“ reiht sich dabei in ein Netz weiterer Unwörter ein, die zusammen dazu dienen, diese Stimmung zu befördern: „Armutszuwanderung“ wird im Sinne von „Einwanderung in die Sozialsysteme“ ursprünglich diffamierend und nun zunehmend undifferenziert als vermeintlich sachlich-neutraler Ausdruck verwendet. Mit „Freizügigkeitsmissbrauch“ wird denjenigen, die die in der EU jetzt auch für Menschen aus Bulgarien und Rumänien garantierte Freizügigkeit nutzen, ein kriminelles Verhalten unterstellt. Der Ausdruck „Sozialtourismus“ treibt die Unterstellung einer böswilligen Absicht jedoch auf die Spitze.
In diesem Jahr führt die Jury eine weitere Kategorie ein, um die Vorschläge, die den prominenten und jährlich wechselnden Gästen besonders am Herzen liegen, besser würdigen zu können: Das persönliche Unwort des jeweiligen Gastes, das den Kriterien der Jury genügen kann, aber nicht unbedingt muss.
Das persönliche Unwort des diesjährigen Gastes, des Schriftstellers Ingo Schulze:
Arbeitnehmer/Arbeitgeber
Geht man von der grundlegenden Bedeutung von Arbeit als Leistung/Arbeitskraft aus, dann verkehrt das Wortpaar in dramatischer Weise die tatsächlichen Verhältnisse: Wer die Arbeit leistet, gibt, verkauft, wird zum Arbeitnehmer degradiert –wer sie nimmt, bezahlt und von ihr profitiert, zum Arbeitgeber erhoben. Die biblische Wendung „Geben ist seliger als nehmen“ klingt bei diesem Begriffspaar unterschwellig immer mit. Aber auch wer den Begriff Arbeit in seiner abgeleiteten institutionellen Bedeutung als Arbeitsstelle begreift –Arbeitgeber als jene, die die Arbeitsstelle zur Verfügung stellen, also „Arbeitsplätze schaffen“ , unterschlägt, dass diese Arbeitsstelle (sei es die Maschine, der Bürotisch oder die Computer-software) ja auch erst durch Arbeit geschaffen werden musste. Diese sprachliche Perspektivierung, die für eine bestimmte Denkhaltung steht (z. B. dass es ohne Arbeitgeber keine Arbeit gebe) und diese als die gültige zementiert, wurde schon von Friedrich Engels und Karl Marx kritisiert.
(Ausführlicher hierzu von Ingo Schulze unter
http://www.deutscheakademie.de/sprachkritik/2010/06/11/arbeitgeberarbeitnehmer/)
Unwort -Statistik 2013:
Für das Jahr 2013 wurden 746 verschiedene Wörter eingeschickt.
Die Jury erhielt insgesamt 1340 Einsendungen. Die häufigsten Einsendungen
(über 10 Einsendungen), die den Kriterien der Jury entsprechen,waren Supergrundrecht (45mal), Homo-Ehe (19mal), Ausschließeritis (16 mal) und Armutszuwanderung/-einwanderung(15 mal).
Außer Konkurrenz liefen Einsende -Kampagnen zu den Wörtern Schnabelbehandlung (218 mal eingesendet) und Umstrittene Verhörmethode (26mal eingesendet).
Die Jury der institutionell unabhängigen Aktion„Unwort des Jahres“ besteht aus folgenden Mitgliedern: den vier Sprachwissenschaftlern Prof. Dr. Nina Janich/TU Darmstadt (Sprecherin), PD Dr. Kersten Sven Roth (Universität Zürich), Prof. Dr. Jürgen Schiewe (Universität Greifswald) und Prof. Dr. Martin Wengeler (Universität Trier) sowie dem Autor und Journalisten Stephan Hebel.
Als jährlich wechselndes Mitglied war in diesem Jahr der Schriftsteller Ingo Schulze (www.ingoschulze.com) beteiligt.
Autor:Siegfried Schönfeld aus Marl |
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