Laudatio des Ministerpräsidenten NRW Armin Laschet an Rolf Abrahamsohn aus Marl
Sehr geehrter Herr Abrahamsohn,
liebe Gäste,
wir sind heute in Ihrem Elternhaus zu Gast, in dem Sie als dritter von vier Söhnen einer jüdischen Kaufmannsfamilie aufgewachsen sind. Hier haben Sie, wie Sie selbst sagen, eine glückliche Kindheit verbracht. Hier in Marl sind Sie zusammen mit anderen Kindern, Ihren christlichen Freunden, aufgewachsen. Sie und Ihre Familie konnten nicht ahnen, wie verhängnisvoll der Unterschied, Jude oder Christ zu sein, noch für Sie werden sollte.
Doch früh nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten fand Ihre unbeschwerte Kindheit ein Ende. Und Ihr Leidensweg und der Ihrer Familie begann. Die Jahre, die dann folgten, waren Jahre voller Angst, Schrecken und Grausamkeit für Millionen Menschen jüdischen Glaubens und damit auch für Sie und Ihre Familie. Sie haben in dieser schlimmen und zutiefst menschenverachtenden Zeit nicht nur Ihre gesamte Familie verloren. Sie selber sind durch die Hölle von sieben Konzentrations- und Arbeitslagern gegangen. Dass Sie dieses unvorstellbare Martyrium überlebt haben, grenzt an ein Wunder.
Lieber Herr Abrahamsohn, Sie hätten allen Grund gehabt, nach Ihrer Befreiung 1945 Deutschland den Rücken zu kehren. Sie hätten es wohl auch getan, wäre da nicht die Hoffnung gewesen, hier in Marl noch überlebende Familienmitglieder wiederzufinden. Diese Hoffnung wurde bitter enttäuscht.
Und dennoch sind Sie geblieben und haben das Geschäft Ihrer Eltern wiederaufgebaut. Mit Erfolg. Und an Ihrem wirtschaftlichen Erfolg ließen Sie schon früh Menschen vor allem in Israel teilhaben.
Hier im Ruhrgebiet, lieber Herr Abrahamsohn, haben Sie zusammen mit anderen Holocaust-Überlebenden mitgeholfen, jüdisches Leben im Ruhrgebiet wieder möglich zu machen. Und auch das gelang Ihnen.
So setzten Sie sich für die neu gegründete Jüdische Kultusgemeinde Bochum/ Herne/ Recklinghausen ein. 14 Jahre, von 1978 bis 1992, waren Sie ihr Vorsitzender. Seit 2016 sind Sie Ehrenvorsitzender der jüdischen Kultusgemeinde Recklinghausen. Zugleich waren Sie im Vorstand der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit aktiv. Den Aufbau des Jüdischen Museums in Dorsten haben Sie intensiv unterstützt und begleitet.
Ihr überragendes Verdienst, lieber Herr Abrahamsohn, zeigt sich in der menschlichen Größe und Kraft, die es Ihnen möglich machte, bei uns in Nordrhein-Westfalen die Erinnerung an die Nazi-Diktatur, an den Holocaust und seine Opfer wach zu halten. Sie berichten vor allem jungen Menschen, oft Schülerinnen und Schülern oder jungen Polizistinnen und Polizisten, von Ihrem Leidensweg. Jedes Mal ist Ihnen die ungeteilte Aufmerksamkeit Ihrer Zuhörerschaft sicher.
Als einer der letzten Zeitzeugen erinnern Sie an das Menschheitsverbrechen des Holocaust. Sie helfen mit, dass nichts vergessen wird und dass vor allem die Opfer nicht vergessen werden. Und Sie mahnen, dass wir wachsam sein müssen gegenüber jeder Form von Rassismus und Antisemitismus. Bis heute, fast 75 Jahre nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur, ist es wichtig geblieben, sich gegen Antisemitismus zu engagieren.
Lieber Herr Abrahamsohn, obwohl es Ihnen jedes Mal schwerfiel, haben Sie das mit ganzer Kraft getan. Und das besonders glaubwürdig und deshalb besonders wirksam. Immer wieder sind Sie in Schulen gegangen und haben den jungen Menschen von Ihrem Schicksal berichtet, trotz vieler schlafloser Nächte.
Was Sie dazu bewegt hat, lieber Herr Abrahamsohn, haben Sie in einem einzigen Satz zusammengefasst: „Wenn Du den Kindern erzählst, dass Juden nicht schlechter sind als Christen, und Du nur ein Kind erreichst, hast du schon etwas bewirkt.“ Sie, lieber Herr Abrahamsohn, haben sehr viel bewirkt. Zum Beispiel die vielen berührenden Briefe, die Sie von den jungen Menschen erhalten haben, zeigen das auf beeindruckende Weise.
Auch wer Ihren Lebensweg kennt, vermag sich kaum vorzustellen, wie viel Kraft Sie das gekostet haben muss. Und selbst im Alter von 94 Jahren sind Sie dazu noch bereit. Wer ein solches Schicksal durchlebt und erlitten hat, wer das Grauen des Holocaust überlebt hat und mitansehen musste, wie geliebte Menschen ihn nicht überlebt haben, könnte am Leben und an den Menschen verzweifeln. Wer würde das nicht verstehen?
Sie aber, lieber Herr Abrahamsohn, setzen sich dafür ein, dass so etwas nie wieder passieren darf. Dafür, dass Menschen bei uns ohne Furcht leben können. Dafür, dass die Menschen friedlich zusammenleben und zusammenhalten. Das zu tun, haben Sie immer auch als Verpflichtung den Toten gegenüber empfunden.
2011 sind Sie vom Kreis Recklinghausen für Ihre Verdienste um die Erinnerungskultur als „Vestischer Ehrenbürger“ geehrt worden. Im vergangenen Jahr hat der Kreis Recklinghausen die „Rolf Abrahamsohn-Medaille“ gestiftet als Anerkennung eines vorbildlichen Engagements gegen das Vergessen und für ein friedliches Zusammenleben.
Heute dankt Ihnen das Land Nordrhein-Westfalen mit großer Hochachtung, in tiefem Respekt und voller Dankbarkeit, lieber Herr Abrahamsohn. Mir ist es eine besondere Freude und eine Ehre, Ihnen den Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen zu verleihen.
Autor:Siegfried Schönfeld aus Marl |
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