Ruhrtriennale auf Zeche Auguste Victoria: "Die Fremden" - Industrie-Dinosaurier in Anti-Camus-Uraufführung
Bundespräsident Gauck staunte auf Zeche Auguste Victoria in der Kohlenmischhalle:
Bisheriger Höhepunkt der insgesamt dreijährigen Intendanz von Johan Simons beim Ruhrgebiets-Kultur-Festival, in der Chef-Regie Mittelpunkt der diesjährigen, zweiten Simons-Ruhrtriennale-Saison: Bundespräsident Joachim Gauck erlebte die Premiere der Musiktheater-Kreation „Die Fremden“ am Freitag vor internationalem und regionalem Publikum. In der Kohlenmischhalle der erst 2015 stillgelegten Marler Zeche Auguste Victoria (AV). Neben den Simons-Star-Schauspielern überzeugte ein atemberaubender „Mitspieler“, der die Stillegung funktionstüchtig überlebt hat:
Musik-Theater: Enormer Effekt
Die fahrbare, fast hallenbreite riesige Kohlenmisch-Maschinerie bildet über eine Stunde lang erstmal „nur“ einen beeindruckenden Bühnenhintergrund aus Gestänge, Kohleschütten, Mischtrommeln und Schienen-Rollen. Dann fährt sie: Mit dem einzig gesangsbegleiteten (Sopran: Katrin Baerts) Herz-Stück der Orchestrierung (Claude Viviers usbekisches Stück „Bouchara“), dessen völlig fremde Sprache die Zuschauer anders als sonst entrückt, bewegt sich fast lautlos das einstige Maschinen-Monstrum auf seinen Rand-Schienen vom Publikum weg nach hinten zum offenen Ende der Riesenhalle – ein atemberaubender Effekt, ein Dinosaurier-Kommentar vom hier verendeten Kohle-Industriezeitalters zum endgültigen Verlust unserer gewohnten „kleinen Welt“ mit nur wenigen Fremden um uns. Ein Signalhorn tutet, Mittelmeer plätschert vom Band, ein Riesendampfer legt ab – „Maschine fährt“.
„Die Fremden“ sind eine theatralisierte Fassung des Romans, geschrieben vom (anwesenden) Algerier Kamel Daout, zunächst gespielt nur vorn auf der Kohlestaub-Fläche, die das Monster vor der schmalseitigen Tribüne frei ließ. Und die sich Schauspieler und das Amsterdamer Moderne-Orchester Asko/Schönberg teilen. Kompositionen von Mauricio Kagel und György Ligeti geben bewusst keine nordafrikanischen Assoziationen: Schauspieler wie u.a. Benny Claessens, Sandra Hüller und Simons´ Frau Elsie de Brauw spielen auch nicht etwa Algerier. Sondern zitieren „allgemein-menschlich’“ in wechselnde Rollen spielend schlüpfend die Romanfiguren. Autor Daout hat sich mit seiner literarischen „Gegendarstellung“ den „Fall Meursault“ vorgenommen. Was das ist ?
Anlass ist einer der meistgelesenen Texte der Welt, „Der Fremde“ von Albert Camus! In dem bekanntlich ein von existenzialistischen Zweifeln gelangweilt-zerrissener Franzose grundlos am Strand einen Algerier erschießt. Daout und Simons fiel der Kern der seit den 50ern diskutierten Camus-Provokation auf:
Der ermordete Fremde hat bei Camus noch nicht einmal einen Namen! Er ist nur eine Opfer-Funktion, wie man es den Flüchtlingen, die ebenfalls „Namenlosen“ dies heute in Europa zuweisen möchte. Daouts preisgekrönter Neu-Roman ist der eines erfundenen Bruders Haroun, der sich heute dem nun - Jahrzehnte später - als Moussa benannten Opfer widmet, der wohl berühmtesten Romanfigur ohne Namen. Dessen Namenlosigkeit Generationen von Französisch-Lehrern nicht auffiel, um den ging es ja gar nicht in „Der Fremde“, sondern um den Täter Mersault…
Kennzeichen lautet „D – 1“
Intendant Simons, der den Bundespräsidenten (und evangelischen Pfarrer) auf das Herzlichste dankbar für den Besuch begrüßte, ihn nach dem donnernden und trampelnden Schluss-Applaus gar persönlich vom Tribünenplatz (samt Sicherungsgruppe-Bodyguards) abholte und vom nie gesehenen Spielort zur Staatskarosse mit dem Kfz-Kennzeichen „D –1“ geleitete: „Es ist ein Stück darüber, wie die Religion einen ersticken kann, ob man nun Christ oder Muslim wurde.“ Bei den entsprechend generell anti-religiösen Textpassagen schaute auch manch Premierengast zum - reaktionslos bleibenden - Präsidenten aller Deutschen.
Ausgezeichnete, u.a. vorab in der Halle mit Statisten auf Flüchtlingsbetten gedrehte farbige Stummfilm-Szenen des Film-Künstlers Aernout Mik kommentieren in HD-Brillanz auf riesiger Leinwand nicht nur das Bühnengeschehen. Sondern erzählen eine raffinierte eigene Geschichte, auch die der Flüchtlings-Ströme als späte Folge des Kolonialismus. A. Mik zum Flüchtlings-Thema, das erst begonnen hat: „Die Fremden kommen nicht von außerhalb.“ (cd)
Weitere Vorstellungen der beeindruckenden, orchester-begleiteten Theater-Vorstellung „Die Fremden“ in der AV-Kohlenmischhalle sind jeweils um 20 Uhr am 8. 9., und 10. September zu sehen. Interessenten aus Marl und Umgebung können Karten auch im städt. Informationsbüro i-Punkt im Marler Stern erhalten, das montags bis freitags von 9.30 bis 17.30 und samstags von 9.30 bis 13 Uhr geöffnet ist, Tel. 02365-994310. Weitere Informationen und Karten auch für andere Höhepunkte des Festivals siehe ruhrtriennale.de. (cd)
Autor:Caro Dai aus Essen-Werden |
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