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Glücksmomente in Karlchens Backstube

Rauskommen, Menschen treffen, Beziehungen entwickeln und eine schöne Zeit verbringen: Das können von Einsamkeit betroffene Menschen durch das Projekt „Gemeinsamkeit“ in Bad Oeynhausen. | Foto: © Caritas / Jürgen Sauer
  • Rauskommen, Menschen treffen, Beziehungen entwickeln und eine schöne Zeit verbringen: Das können von Einsamkeit betroffene Menschen durch das Projekt „Gemeinsamkeit“ in Bad Oeynhausen.
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„Wir backen Glücksmomente.“ Der Slogan von „Karlchens Backstube“ könnte an diesem Nachmittag passender nicht sein. Die Gruppe, die gerade an dem Tisch des Bäckerei-Cafés in einem Einkaufszentrum in Bad Oeynhausen Platz genommen hat, ist gut drauf. Zu Filterkaffee und Kirsch-Joghurt-Schnitten wird viel gelacht. Die 66-jährige Annegret will heute für sich und „ihren“ Hans (77) „endlich“ einen Freundschaftsring kaufen, quasi als Überraschung, was Hans eher gleichmütig zur Kenntnis nimmt. „Diese jungen Leute“, kommentiert das Wladimir trocken, bevor der 58-Jährige erst einmal loszieht, um sich Zigaretten-Hülsen zu besorgen.

Annegret, Hans und Wladimir kennen sich schon seit vielen Jahren. Zusammen mit anderen Personen sind sie Teil des Projektes „Gemeinsamkeit“, das der Betreuungsverein im Sozialdienst katholischer Frauen Herford vor zehn Jahren ins Leben gerufen hat. Ziel ist es, alleinstehenden Personen, für die eine rechtliche Betreuung besteht, eine regelmäßige Kontaktmöglichkeit zu bieten. Ursula Krone und Agnita Burdich organisieren diese Treffen ehrenamtlich alle zwei Wochen: Von Besuchen im Café, Freilichtmuseum oder Tierpark über Shopping bis hin zur Teilnahme an Karnevalsveranstaltungen reicht das Programm. Alle zwei Jahre gibt es sogar eine gemeinsame Ferienfreizeit an der Nordsee.

Rechtliche Betreuung erfolgt immer dann, wenn Erwachsene nicht in der Lage sind, für sich selbst zu entscheiden. „Die meisten Teilnehmer unseres Angebotes leiden an einer psychischen Erkrankung und haben kaum soziale Kontakte“, berichtet Ursula Krone. Die 77-Jährige war früher selbst auch als rechtliche Betreuerin ehrenamtlich tätig, kann aber den hohen bürokratischen Aufwand, der damit verbunden ist, heute nicht mehr leisten. Von Behördengängen über Vermögens- und Wohnungsangelegenheiten bis hin zu Gesprächen mit Ärzten – das Feld der rechtlichen Betreuung nach dem Betreuungsgesetz (BtG) ist riesig.

Zeit für eine Betreuung, die auf die menschlichen und sozialen Bedürfnisse der Betroffenen zielt, bleibt für die haupt- und ehrenamtlichen BtG-Betreuer nicht. Und dies hat nichts mit böser Absicht zu tun. Das von der Justiz bewilligte und finanzierte Zeitbudget ist einfach zu eng bemessen und bezieht sich pauschal immer auf die Gesamtheit aller Betreuungsfälle. Ist für eine Person ein höherer Stunden-Aufwand nötig, muss automatisch bei einem anderen Betroffenen die Betreuungszeit zurückgefahren werden. Menschliche Zuwendung wird so zu einem „Luxusgut“. Schwer zu ertragen für einen Betreuungsverein wie den Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) Herford. „Wir wollen mit unserem Projekt zeigen, dass wir unter rechtlicher Betreuung mehr verstehen, als nur im Rahmen der von den Betreuungsgerichten angeordneten Wirkungskreise zu arbeiten“, sagt SkF-Geschäftsführer Stefan Heckers. „Die Projektarbeit erweitert ganz erheblich den vom Gesetzgeber gewollten regelmäßigen Kontakt des Betreuers zum Betreuten."

Das Herforder Projekt ist Teil der Aktion „7 gegen Einsamkeit“. Sieben Fachverbände der Caritas im Erzbistum Paderborn wollen für das Thema sensibilisieren und ehrenamtliches Engagement zum Abbau von Isolierung und zur Eindämmung von Einsamkeit fördern. Einsamkeit kann zu gravierenden gesundheitlichen Problemen führen, sowohl in körperlicher als auch psychischer Hinsicht. Zu den sieben Verbänden gehören die Caritas-Konferenzen (CKD), IN VIA, Kreuzbund, Malteser, Sozialdienst katholischer Frauen, Sozialdienst Katholischer Männer und Vinzenz-Konferenzen.

Die 14-tägigen Treffen sind für die meisten Teilnehmer des Projekts der einzige Sozialkontakt. Wie bei Wladimir, der 1995 als russischstämmiger Ehemann einer Russlanddeutschen aus Kirgisien nach Herford kam. Die Ehe des gelernten Bauingenieurs zerbrach, ein schwerer Autounfall warf ihn endgültig aus der Bahn. Seitdem lebt er allein mit seiner Katze in seiner eigenen Welt, hält sich mit Kraftsport fit und schaut russisches Fernsehen. „Viele haben sich in ihrer Einsamkeit eingerichtet“, weiß Ursula Krone. Es brauche viel Fingerspitzengefühl vonseiten der rechtlichen Betreuer, die Betroffenen zu sozialen Kontakten wie dem Projekt Gemeinsamkeit zu motivieren. „Lieber das gewohnte Unglück, als das ungewohnte Glück.“
Ihr Glück gefunden haben Annegret und Hans, die sich in der Gruppe kennengelernt haben. Hans musste nach dem Krieg mit seiner Mutter aus Ostpreußen fliehen und wuchs in Hagen auf, „bis meine Mutter sich nicht mehr um mich kümmern konnte.“ Der Vater ist in Stalingrad gefallen. Der freundliche ältere Herr lebt heute in einer Einrichtung des betreuten Wohnens in Löhne. Seine Freundin Annegret lebt in Herford. Stolz erzählen sie, wie sie beide Weihnachten und Neujahr gemeinsam verbracht haben. Die lebhafte Annegret ist das Gegenteil zum bedächtigen Hans. Mit wachen Augen erlebt sie ihre Heimatstadt. „Neulich haben wir uns in einer Gaststätte getroffen, in der gerade der Beerdigungskaffee für einen verstorbenen Kirmes-Schausteller stattfand. Annegret konnte uns genau erklären, welcher Schausteller hinter welcher Kirmesbude steht“, berichtet Ursula Krone.

Dass mit 66 Jahren das Leben, wie Udo Jürgens sang, bekanntlich erst anfängt, dafür ist Annegret das beste Beispiel: „Bald geht die Volkshochschule wieder los“, berichtet sie stolz. Annegret lernt dort Lesen und Schreiben. Den Freundschaftsring für ihren Hans aus einer Modeschmuck-Filiale im Einkaufszentrum gibt es an diesem Tag dann wirklich. Auch wenn ihr Liebster erst einmal von den anderen Teilnehmern des Kaffeeplausches aufgefordert werden muss, diesen Ring aus der Papiertüte zu holen und anzustecken.

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