Steigende Zahl an Inobhutnahmen
Die stille Not der Kinder

Das Mädchen, was wir Sina nennen, hat in sechs Jahren in neun Einrichtungen gelebt.  | Foto: Anemone 123 auf Pixabay
2Bilder
  • Das Mädchen, was wir Sina nennen, hat in sechs Jahren in neun Einrichtungen gelebt.
  • Foto: Anemone 123 auf Pixabay
  • hochgeladen von Miriam Dabitsch

Sina* ist zehn Jahre alt. Seit sie im Alter von vier Jahren aus ihrer Familie genommen wurde, hat sie schon in neun Jugendhilfe-Einrichtungen gelebt. Nicht ohne Grund: Einmal hat sie einer Mitarbeiterin die Nase gebrochen.

Der Fall des Mädchens zeigt, was schief läuft in der stationären Kinder- und Jugendhilfe. "Man kann darüber streiten, was zuerst da war: Der Fachkräftemangel, der die Qualität der Betreuung senkt und viel zu viele Kompromisse erfordert - oder die steigende Zahl an massiv verhaltensauffälligen Kindern, die einen intensiven Betreuungsbedarf haben", sagt Elena Traikos, Fachbereichsleitung Stationäre Hilfen beim Ortsverband Essen des Deutschen Kinderschutzbundes.

2022 neuer Höchststand an Kindeswohlgefährdungen

Fakt ist: So viele Kindeswohlgefährdungen wie 2022 gab es noch nie in Deutschland. Bei fast 62.300 Kindern oder Jugendlichen stellten die Jugendämter eine Kindeswohlgefährdung fest, schreibt der Kinderschutzbund in einem Bericht auf lokalkompass.de. Auch in Essen steigen die Zahlen: Im ersten Halbjahr 2023 erreichten den Ortsverband bereits 352 Anfragen nach einem Platz in einer seiner beiden Kindernotaufnahmen. Im gesamten Jahr 2022 waren es 445 Anfragen, im Jahr davor 407 Anfragen.

Kinderschutzbund Essen betreibt bislang zwei Notaufnahmen

In seinen Kindernotaufnahmen „Kleine Spatzen“ und „Spatzennest“ stellt der Kinderschutzbund Essen insgesamt 26 Plätze für Kinder im Alter von zwei bis zwölf Jahren zur Verfügung. Hier finden Kinder in Krisensituationen, die vom Jugendamt in Obhut genommen werden, vorübergehend ein neues Zuhause. In den Stationären Hilfen arbeiten unter anderem Erzieher und Erzieherinnen sowie Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen zusammen, um den oftmals traumatisierten Kindern Schutz und Halt zu bieten. Fördermaßnahmen tragen dazu bei, den Kindern neue Perspektiven zu eröffnen.

45 Kinder seit Jahresbeginn in den beiden Essener Einrichtungen betreut

Seit Jahresbeginn lebten in den beiden Notaufnahmen des Essener Kinderschutzbundes 45 Kinder (Stand 30. Juni 2023). 22 davon wurden in diesem Jahr neu aufgenommen. 19 Kinder waren zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme jünger als sechs Jahre alt; 21 Kinder waren im Grundschulalter. Damit spiegelt sich in Essen die bundesweite Entwicklung wider: Die Zahl der Inobhutnahmen steigt an. 2022 nahmen die Jugendämter in Deutschland mehr als 66.400 Kinder und Jugendliche vorübergehend zu ihrem Schutz aus ihren Familien. Das waren rund 18.900 Fälle oder 40 Prozent mehr als im Vorjahr. In Essen ist die Anzahl der vorläufigen Schutzmaßnahmen um 5,7 Prozent gestiegen, in Nordrhein-Westfalen um 35,7 Prozent.

Elena Traikos, Fachbereichsleitung Stationäre Hilfen beim Ortsverband Essen des Deutschen Kinderschutzbundes, berichtet aus der Praxis. | Foto: Foto: Sven Lorenz
  • Elena Traikos, Fachbereichsleitung Stationäre Hilfen beim Ortsverband Essen des Deutschen Kinderschutzbundes, berichtet aus der Praxis.
  • Foto: Foto: Sven Lorenz
  • hochgeladen von Miriam Dabitsch

Fachkräftemangel in der Kinder- und Jugendhilfe

Die steigenden Zahlen allein würden die Anbieter schon an ihre Grenzen bringen. Hinzu kommt auch hier der Fachkräftemangel. "Sowohl in den Ämtern als auch in den Einrichtungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe fehlen qualifizierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Für die Kinder bedeutet das: Immer wieder kommt es zu Bindungsabbrüchen. Viele verlieren das Vertrauen in das Hilfesystem", fasst Elena Traikos ihre Erfahrungen zusammen.

Aus sechs Monaten wurden zweieinhalb Jahre

So war es auch bei Sina. Zunächst lebte sie zweieinhalb Jahre in einer Essener Einrichtung, und das, obwohl die Kinder dort maximal sechs Monate untergebracht sein sollen. Die Eltern forderten bei Gerichten die Rückführung des Kindes in die Familie ein. Dazu mussten mehrere zeitintensive Gutachten erstellt werden und im Jugendamt wechselten dreimal die zuständigen Mitarbeiter, was alles zusammen zu dieser Verzögerung des Prozesses führte. "Dadurch werden die Plätze in diesen Notfall-Gruppen für neue Notfälle blockiert", sagt Elena Traikos.

Psychiatrie nahm das Kind nicht stationär auf

Kurze Zeit war Sina in einer Pflegefamilie untergebracht, aber auch dort konnte sie nicht bleiben. Die Pflegeeltern waren mit der Betreuung überfordert. Also zurück in die Essener Einrichtung. Anfangs lief alles gut, aber dann nahmen die Probleme Überhand: Sina klaute, haute ab, drohte, sich selbst oder andere zu verletzen. Mehrmals wurde ein Rettungswagen gerufen, der das Kind in eine psychiatrische Klinik brachte. Dort wurde Sina maximal einige Stunden betreut, um die akute Krise abzuwenden. "Für eine stationäre Diagnostik ist es wichtig, dass das Kind eine feste Unterbringung in einer adäquaten Einrichtung hat. Das ist in einer Inobhutnahmestelle nicht der Fall, also konnte das Kind auch dort nicht aufgenommen werden", erklärt Elena Traikos.

Schwierige Suche nach einem Betreuungsplatz

Schwierige Suche für das Jugendamt: Entweder fehlte es an freien Plätzen oder die angefragten Einrichtungen trauten sich nicht zu, Sina bei sich aufzunehmen. "Der Betreuungsbedarf der Kinder ist sehr intensiv", stellt die Expertin fest. Landesweit werde beobachtet, dass die pädagogischen und medizinischen Bedarfe der in Obhut genommenen Kinder steige. "Es ist eine Überforderung des Fachpersonals in allen Bereichen zu spüren", sagt die Fachbereichsleiterin.

Sina musste ihr Umfeld verlassen

Zurück zu Sina: Wieder blieb das Mädchen ein Jahr in Essen, bis ein Platz in einer Intensivgruppe gefunden wurde. Sina wollte dort nicht hinziehen, war die Einrichtung etwa 80 Kilometer von ihrer Heimat entfernt. Aber aus Mangel an Alternativen blieb keine Wahl und so lebt das Mädchen nun dort. Heimisch, so kann man sich denken, wird Sina sich da nicht fühlen. Es ist ihr neuntes Zuhause in sechs Jahren, außerhalb ihres gewohnten Umfeldes.

Kinderschutzbund Essen plant drittes Schutzhaus

Für den Vorsitzenden des Essener Kinderschutzbundes Prof. Dr. Ulrich Spie eine nicht hinnehmbare Situation. Der Kinderschutzbund Essen musste seit Jahresbeginn mehr als 330 Anfragen ablehnen. Um diesem Missstand entgegenzutreten, ergreift der Ortsverband die Initiative. Er plant zurzeit ein drittes Schutzhaus. „Denn wenn nicht genug Plätze vor Ort vorhanden sind, bedeutet das, dass Kinder weit entfernt untergebracht und aus ihren vertrauten Kitas, Schulen und Beziehungsfeldern herausgenommen werden müssen. Das wollen wir nicht akzeptieren“, sagt Prof. Dr. Ulrich Spie. Für die Umsetzung ist der Verein auf Spenden angewiesen.

(*Der Name des Kindes wurde von der Redaktion geändert.)

Das Mädchen, was wir Sina nennen, hat in sechs Jahren in neun Einrichtungen gelebt.  | Foto: Anemone 123 auf Pixabay
Elena Traikos, Fachbereichsleitung Stationäre Hilfen beim Ortsverband Essen des Deutschen Kinderschutzbundes, berichtet aus der Praxis. | Foto: Foto: Sven Lorenz
Autor:

Miriam Dabitsch aus Velbert

Miriam Dabitsch auf Facebook
Miriam Dabitsch auf Instagram
Miriam Dabitsch auf X (vormals Twitter)
following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

260 folgen diesem Profil

23 Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.