Silke Berwing leidet an einem Lip- und Lymphödem
"Der erste Blick geht immer zu meinen Beinen"
Nein, die Opferrolle steht ihr nicht. Silke Berwing (54) lässt sich weder unterkriegen noch provozieren - dabei endet für sie nicht selten ein ganz normaler Einkauf in einem Spießrutenlauf.
Silke Berwing war nie schlank. Schon als Kind kämpfte sie gegen die Kilos, ebenso wie ihre Eltern. Sie erinnert sich an ein Gespräch mit ihrer Hausärztin, da war sie im Jugendalter: "Die war so anmaßend, hat gesagt, meine Oberschenkel hätten den Umfang wie die Taillen anderer Leute." In den folgenden Jahren machte die heute 54-Jährige immer wieder die Erfahrung, dass selbst Ärzte sie wegen ihrer Figur verurteilten. Empfehlungen wie "weniger essen", "Diät halten" oder "mehr Sport treiben" kann sie nicht mehr hören.
50 Kilo abgenommen
Tatsächlich hat Silke Berwing mit Hilfe eines Magen-Bypasses 50 Kilogramm abgenommen - "nur an den Beinen hat sich fast nichts getan", sagt sie. Das liegt am Lip- und Lymphödem, eine Krankheit, an der Millionen Frauen leiden. Viele, ohne es zu wissen. Es handelt sich beim Lipödem um eine chronische Fettverteilungsstörung, im Rahmen derer sich die Fettzellen an Oberschenkeln, Hüfte, Po oder Armen unkontrolliert vermehren. Dies kann zur Beeinträchtigung des Lymphsystems führen, so dass es zum Stau von Lymphflüssigkeit kommt. Die Folge sind weitere Schwellungen in den Beinen.
Krankheit angenommen, ohne zu hadern
Bei Silke Berwing war das Lip- und Lymphödem ein Zufallsbefund. "Ich war wegen einer Fußfraktur in Behandlung, als es festgestellt wurde." Daraufhin hat sich die Essenerin informiert. Als sie erfuhr, dass es sich um eine chronische Erkrankung handelt, nahm sie sie an. "Ich kann an der Krankheit nichts ändern, sondern muss damit leben. Deshalb habe ich mich nicht tiefergehend damit befasst." Wie von Fachärzten empfohlen, trägt Silke Berwing tagsüber Kompressionsstrümpfe und geht einmal pro Woche zur Lymphdrainage. "Zweimal wäre besser, aber das schaffe ich zeitlich nicht." Neben ihrem Vollzeit-Job als Verwaltungsfachangestellte kümmert sich die Essenerin auch um die Pflege ihrer Mutter. Und das, obwohl sie seit einiger Zeit wegen einer weiteren Krankheit immer schlechter laufen kann.
Liposuktion kommt nicht in Frage
Mit dem Gedanken, das krankhafte Fett absaugen zu lassen, hat sich die 54-Jährige nur kurz befasst: "Die Liposuktion ist nicht zu unterschätzen. Da habe ich Angst vor."
Einmal war Berwing bei einer Selbsthilfegruppe für Lipödempatientinnen. "Dort waren einige schlanke betroffene Frauen. Außer dieser Erkenntnis, dass die Krankheit figurunabhängig jede Frau treffen kann, hat mir das nichts gebracht." Kein Wunder, denn Silke Berwing ist niemand, der Zuspruch oder Trost benötigt.
Die Mutmacherin
Sie schlüpft viel lieber in die Rolle der Mutmacherin. Zum Beispiel kürzlich, als eine Betroffene sie über Facebook anschrieb und mitteilte, dass sie sich lieber zu Hause verkriecht. "Tatsächlich hat sie sich nach unserem Austausch wieder vor die Tür getraut. Das war toll."
Die "Hater" legten sofort los
Die Nachricht war eine Reaktion auf ein Foto von Silke, das im Rahmen einer Modenschau der Boutique Froschkönigin entstanden ist und in dem Sozialen Netzwerk veröffentlicht wurde. Es dauerte keine drei Minuten, bis die ersten Hasskommentare unter dem Beitrag standen. Das kennt die 54-Jährige auch im echten Leben zu Genüge. "Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht von Fremden angestarrt werde. Der erste Blick geht immer in Richtung meiner Beine." Manchmal hört sie Beleidigungen, sieht Gesten, wie auf sie gezeigt wird oder Frauen, die tuscheln. "Am meisten ärgert mich, dass die Leute mich für so dumm halten, dass ich das nicht mitkriege." Dann machen sich in ihrem Kopf böse Gedanken breit wie "sieh' dich doch selber an". "Die lasse ich aber nicht lange zu, ich will mich nicht auf die selbe Stufe stellen."
Im Badeanzug fühlt sie sich nicht wohl
Auch wenn sie die Blicke und Lästereien als unangenehm empfindet, gibt sie nicht klein bei. "Ich trage gerne auffällige und auch mal ausgefallene Kleidung, das lasse ich mir von niemandem nehmen." Nur an den Strand oder ins Schwimmbad geht Silke Berwing schon seit Jahren nicht mehr - da fühlt sie sich nicht wohl.
Als Model auf Modenschauen
Dafür trifft man die Essenerin hin und wieder auf dem Catwalk an. "Ich präsentiere schon seit zehn Jahren für meine Lieblingsboutique Mode", erzählt sie. Damals, als die Inhaberin sie gefragt hat, ob sie mitmache, hat Silke gar nicht lange überlegt. Erst später, kurz vor der ersten Show, wurde ihr bewusst, auf was sie sich da eingelassen hat. "Natürlich bin ich vor den Modeschauen aufgeregt. Aber ich mag es, mich zur Musik zu bewegen. Und vor allem blicke ich bei den Modenschauen in zugewandte Gesichter. Das macht Spaß!" Im Nachgang erhält sie viel Zuspruch, zu den Outfits und ihren Auftritten. "Wenn ich höre: ,Das hast du gut gemacht, Silke', freue ich mich. Dann hat jemand die Frau hinter den dicken Beinen gesehen."
Infos zum Lipödem
- Bei einem Lipödem ist das Unterhautfettgewebe vermehrt. Meist betreffen die symmetrischen Fettanlagerungen die Beine, seltener auch die Arme.
- Die chronische Fettverteilungsstörung tritt praktisch ausschließlich bei Frauen auf, oft nach hormonellen Umstellungen wie der Pubertät oder einer Schwangerschaft.
- Zu den sichtbaren Fettvermehrungen kommen regelmäßig auftretende spürbare Beschwerden wie Schmerzen und eine erhöhte Druckempfindlichkeit der Haut.
- Behandelt wird ein Lipödem mittels Kompressionstherapie, im fortgeschritten Stadium mit manueller Lymphdrainage, Sport und Bewegung.
- Eine weitere als sehr effektiv geltende Behandlungsmöglichkeit ist eine Fettabsaugung, bei der die krankhaften Fetteinlagerungen operativ reduziert werden - in vielen Fällen müssen Betroffene die Kosten selbst tragen.
- Weitere Informationen auf https://www.phlebology.de/patienten/venenkrankheiten/lipoedem/ oder https://www.lipoedemportal.de/
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