Mädchen verstecken oft ihre Hochbegabung
Wunsch "unsichtbar zu sein"

"Bloß nicht auffallen" - das war Sarahs größtes Ziel im Kindergarten und in der Grundschule. Schon damals fühlte sie sich "anders".  | Foto: Grafik: dab
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  • "Bloß nicht auffallen" - das war Sarahs größtes Ziel im Kindergarten und in der Grundschule. Schon damals fühlte sie sich "anders".
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Als Sarah* noch nicht schreiben konnte, musste Mama Anke* für sie die Einträge in Freundebüchern vornehmen. Unter der Frage nach ihrem größten Wunsch ließ sie immer "unsichtbar sein" schreiben. 

Schon im Kindergarten fiel den Erziehern auf, dass Sarah irgendwie "verkrampft" wirkte und sich "so verhielt, wie man es von ihr erwartete". Auch die Grundschullehrerin bescheinigte Sarah, dass ihr "die kindliche Spontaneität" fehle. Kein Wunder, schließlich versuchte Sarah jahrelang nicht aufzufallen. 

Entwicklungsschritte früher als bei anderen Kindern

Ihrer Mutter war schon früh klar, dass Sarah ein besonderes Kind ist. "Ich hatte ein Buch über Entwicklungsschritte bei Babys und Kleinkindern und bei allen beschriebenen Schritten war Sarah früher dran", berichtet Anke. Im Alter von zwei Jahren hatte Sarah einen Body, dessen Herstellerfirma mit H begann. "Sie zeigte immer auf den Body und sagte Hüpfburg", erinnert sich Anke. Was sie zunächst nicht verstand: Das Kleinkind hatte den Buchstaben zuvor auf einer Hüpfburg gesehen und ihn im Kleidungsstück wiedererkannt.

Im Kindergarten still und zurückgezogen

Ein seltener Aha-Effekt, denn mit wachsendem Alter zeigte Sarah immer seltener, was in ihr steckt. "Im Kindergarten war sie sehr zurückgezogen und still", sagt Anke. Sie wurde als "gehemmt", "unauffällig" und "regelkonform" beschrieben. Ab dem Alter von fünf Jahren zeigte sie fast nichts mehr, was andere Kinder nicht auch konnten. "Da hatte sie ihre kindliche Neugier schon verloren", sagt Anke. 
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In der Schule unauffällig, zu Hause unausgeglichen

Auch in der Grundschule zeigte sich Sarah völlig unauffällig. "Einmal hat die Lehrerin zu mir gesagt, sie wünschte, die ganze Klasse wäre wie Sarah - angepasst, folgsam, ruhig", sagt Anke. Zu Hause aber ein anderes Bild: Sarah war unausgeglichen, Wutanfälle waren an der Tagesordnung.
Einmal, mit fünf oder sechs Jahren, sagte Sarah zu ihrer Mutter, sie würde gerne weit weg im Wald leben wie ein wildes Tier. "Das soziale Miteinander in Gruppen war Sarahs größtes Problem", weiß Anke heute.

Schon im Kindergarten erkannt, dass sie anders ist

Später hat sie ihrer Mutter anvertraut, dass sie immer versucht habe nicht aufzufallen, dass sie sich dumm gefühlt habe, weil sie beispielsweise die Spielregeln der anderen nicht verstand und stark verunsichert war, weil sie Angst hatte, etwas falsch zu machen. Schon im Kindergarten hatte Sarah realisiert, dass sie anders war als die anderen. Und dass sie sich anpassen muss, wenn sie nicht als anders wahrgenommen werden will. 

Känguru-Wettbewerb brachte die Wende

Sarahs Unzufriedenheit verstärkte sich zusehends, sie wollte nicht mehr in die Schule gehen und nahm depressive Züge an. Ein einziges Mal aber kam sie strahlend nach Hause. Das war der Tag in der dritten Klasse, als Sarah beim Känguru-Wettbewerb teilnehmen durfte. "Sie kam glücklich heim und sagte, der Wettbewerb habe so viel Spaß gemacht." Anke erkannte ihre Tochter nicht wieder. Sarah belegte mit ihrer Punktzahl deutschlandweit einen der dritten Plätze.

IQ- und weitere psychologische Tests

Das war der Auslöser für Anke, den IQ ihrer Tochter testen zu lassen. "Den Gedanken, dass sie hochbegabt ist, hatte ich schon lange. Aber ich habe mir das selbst immer wieder ausgeredet." Wenig überraschend, bestätigte der Test eine Hochbegabung. Weitere Fragebögen, die Sarah im Rahmen der Diagnostik beantwortete, stellten außerdem deutlich heraus, dass die Neunjährige nicht die Erwartung an die Schule hatte, dort noch etwas zu lernen. "Die Anforderungen stimmten nicht", konstatiert Anke. "Das ging zu Lasten ihres Selbstwertgefühls."

Einfach nur hochbegabt

Wegen der Abklärung der depressiven Neigungen und Wutanfälle wandte sich Anke hilfesuchend an ein psychologisches Team. Die Experten nannten dann unter völliger Ignoranz ihrer Vorgeschichte – die jahrelang unterdrückte und nicht erkannte Hochbegabung und das starke Gefühl des Andersseins, ohne selbst ein Erklärung dafür zu haben – ein "frühkindliches Trauma" und eine "gestörte Mutter-Kind-Bindung" als mögliche Ursache ihrer depressiven Neigungen, verbunden mit der Empfehlung einer Therapie. Die brach Anke nach der ersten Sitzung ab - und heute weiß sie: "Das waren alles Fehl-Vermutungen und eine defizitorientierte Herangehensweise. Meine Tochter ist einfach nur hochbegabt." 

Selbst belesen zum Thema Hochbegabung

Anke vertraute in der Folge auf ihr Bauchgefühl und eignete sich sehr viel Wissen zum Thema Hochbegabung an. In vielen Gesprächen arbeiteten Mutter und Tochter vieles auf. Heute besucht Sarah die achte Klasse eines Gymnasiums mit vertiefter Ausbildung. Das sind Schulen in Sachsen, die eine Aufnahmeprüfung verlangen und die Schüler stärker fordern als normale Gymnasien. Anke stupste sie ein bisschen in die Richtung, schickte ihre Tochter zu Experimentier-Samstagen an der Schule und ließ sie beim Tag der offenen Tür in aller Ruhe einen Tintenfisch sezieren. Daraus entwickelte Sarah den Wunsch, an diese naturwissenschaftlich ausgerichtete Schule zu gehen. 

Neues Selbstbewusstsein durch IQ-Test

Dank des IQ-Testergebnisses traute Sarah sich zu der Prüfung - und wurde aufgenommen. Heute weiß sie, dass Lernen Spaß machen kann, sie erlebt Herausforderungen und Erfolgserlebnisse. Immer noch ist sie eine angepasste und eher ruhige Schülerin. "Aber heute weiß sie, warum andere sie manchmal nicht verstehen", sagt Anke. Und noch viel wichtiger: "Sie weiß, dass es Kreise gibt, in denen sie sich zeigen kann, wie sie wirklich ist."
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*Sarah und Anke sind erfundene Namen. Wir respektieren den Wunsch der Familie, die Geschichte anonym zu erzählen, um die Jugendliche zu schützen. Der Redaktion ist der richtige Name bekannt.

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Autor:

Miriam Dabitsch aus Velbert

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