Hochbegabte Kinder im Schulsystem
Wenn Schule krank macht

Hochbegabte Kinder langweilen sich in aller Regel im Unterricht. Vor allem an Grundschulen sind ihnen die Wiederholungen zu viel und die Wissensvermittlung geschieht zu langsam.  | Foto: Grafik: dab
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  • Hochbegabte Kinder langweilen sich in aller Regel im Unterricht. Vor allem an Grundschulen sind ihnen die Wiederholungen zu viel und die Wissensvermittlung geschieht zu langsam.
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Tim* geht in die elfte Klasse eines Gymnasiums. Bis hierhin war es ein steiniger Weg für den Jugendlichen. Als Hochbegabter im Schulsystem eckte er immer wieder an, musste zweimal die Schule wechseln. Ein Erfahrungsbericht. 

"Tim hat sich damals sehr auf die Schule gefreut", erinnert sich seine Mutter. Eingeschult wurde er in der nahe gelegenen Grundschule, die Familie wohnt ländlich in einem kleinen Ort in Niedersachsen. Doch das Glück währte nicht lange. "Schnell gab es Ärger, wenn es um die Hausaufgaben ging, Tim hat ewig gebraucht oder sich verweigert", erzählt die 42-Jährige. Die Konflikte nahmen zu, traten in der zweiten Klasse auch in der Schule zu Tage. Die Lehrerin rief an, sagte, dass Tim den Unterricht störe, sich verweigere und Streit mit ihr suche. "Obwohl Tim zu diesem Zeitpunkt schon gesagt hat, dass ihn die Schule langweilt, habe ich das nicht ernst genommen", bereut seine Mutter heute. "Ich habe das abgetan von wegen ,jeder langweilt sich mal' oder ,da musst du durch'". 

"Das war nicht mehr mein Kind"

Zum Glück für den Jungen hatte er eine engagierte Lehrerin, die eines Tages den Klassensprung vorschlug. "Mein Mann und ich waren nicht begeistert, aber wir hatten keine Wahl - so konnte es nicht weitergehen." Sie erinnert sich an einen Vorfall im zweiten Schuljahr, als Tim mit einer Plastikschippe über den Schulhof lief und wahllos auf andere Kinder einschlug. "Das war nicht mehr mein Kind, so hatte ich ihn nie zuvor erlebt." Tim war nie sozial auffällig, immer gut integriert, sehr sozial und empathisch und hatte Freunde. 

Klassensprung als Lösung

Zum ersten Mal nahmen die Eltern Kontakt zur Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind auf (DGhK), ließen sich hinsichtlich der Acceleration (Klassensprung) beraten. Eines Tages kam Tim freudestrahlend nach Hause. Er hatte in der Schule gehört, dass er bald in der dritten Klasse sein würde. "Bitte, bitte, lasst mich wechseln", bekniete er seine Eltern. Natürlich durfte er.

Zufriedenheit währte nur kurz

Tatsächlich war Tim zu Beginn in der dritten Klasse "ganz gut beschäftigt", so die Mutter, schließlich musste er den Schulstoff aufholen. Er wirkte ausgeglichener und zufriedener - allerdings nur für ein paar Wochen. Denn schnell war Tim auf dem Stand seiner Klassenkameraden angekommen und die Langeweile hielt wieder Einzug. Inzwischen war die Hochbegabung durch die Testung der Intelligenz bestätigt. In solchen Fällen raten Experten, die Schüler mit Sonderaufgaben und zusätzlichen Materialien gesondert zu fördern. Tims Klassenlehrerin folgte dieser Empfehlung nicht. "Sie war nicht bereit, ihren Unterricht zu individualisieren", berichtet die Mutter. Die Lehrerin sagte den Eltern, Tim solle im Tempo der Klasse lernen.

Bauchweh und Migräne

"Er hat wirklich versucht sich anzupassen", erinnert sich seine Mutter. Die Folge waren Bauchschmerzen, Migräne und Dramen zu Hause, weil der Junge partout nicht in die Schule wollte. 
Was viele nicht wissen: Unterforderung löst genauso Stress bei Menschen aus wie eine Überforderung. Immer wiederkehrende Wiederholungen, bis auch die Schwächsten in der Klasse den Stoff verinnerlicht haben, empfinden Hochbegabte als pure Langeweile oder Strafe. So auch Tim. 
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Auf Privatschule sollte Ruhe einkehren

Die Eltern entschieden dann, dass er auf einer Privatschule mit Montessori-Ausrichtung gut aufgehoben sei. Die Familie bewarb sich um ein Stipendium und Tim wurde aufgenommen. "Wir waren so froh und hofften, dass nun Ruhe einkehrt und Tim positive Schulerfahrungen machen kann", sagt die Mutter. Die Ernüchterung folgte schnell. Beim ersten Elternsprechtag sagte ein Lehrer zu den Eltern, dass sie überlegen sollten, ob ihr Sohn auf dieser Schule richtig sei. Er könne ihm nicht die Förderung bieten, die er brauche.

Fehlendes Wissen bei Lehrkräften

Ein anderer Lehrer versuchte Tim mit Zusatzaufgaben zu versorgen. Der Fünftklässler sollte im Nebenraum ein Referat auf Englisch vorbereiten. Dass ihm dafür das Handwerkszeug fehlte, erkannte der Pädagoge nicht. "Viele Menschen gehen davon aus, dass Hochbegabte alles können und keine Anleitung brauchen. Das stimmt aber nicht", weiß Tims Mutter. Wenn sie als Mutter derartige Hinweise an Lehrer gab, kam das in der Regel nicht gut an. "Das ist eine Balanceakt zwischen vertrauensvoller Zusammenarbeit mit der Schule und dem Einfordern von Förderung. Da können die Fronten schnell verhärten."  

Nächster Schulwechsel 

Mittlerweile in der sechsten Klasse, setzten bei Tim wieder Migräne und Bauchschmerzen ein. Lehrer bemängelten wieder, Tim würde ablenken und sich ablenken lassen und seine Aufgaben zu langsam bearbeiten. "Wir hatten immer noch die Hoffnung, dass eine Passung, idealerweise durch passenden Unterricht, gelingen könnte", erinnert sich seine Mutter, die ihn damals für ein Lerncoaching anmeldete. Der Coach gab den Rat, die Schule zu wechseln. Auf dem Gymnasium werde er sich fühlen wie "der Fisch im Wasser".

Selbstzweifel und Versagensängste

In dem Jungen waren inzwischen Selbstzweifel gekeimt. "Was mache ich, wenn ich die Schule wechsle und wieder versage?", fragte er damals seine Eltern. Dabei hatte nicht das Kind, sondern die Schule bzw. das Schulsystem versagt.
 

Zufrieden auf dem Gymnasium

Seit mittlerweile fünf Jahren besucht Tim nun ein Gymnasium und fühlt sich dort wohl. Er hat Freunde, der komplexere Unterrichtsstoff und die schnellere Vermittlung kommen ihm zu Gute. Tim eckt immer noch bei Lehrern an, er hinterfragt vieles, möchte tiefer in Themen eintauchen als die anderen Schüler. Wiederholungen sind ihm immer noch ein Graus, auch bei Klausuren tut er sich schwer. "Bei einer Fragestellung in einer Klassenarbeit möchte Tim sein ganzes Wissen teilen. Das führt dazu, dass er entweder mit der Zeit nicht hinkommt oder die Antwort durch die vielen Informationen verwässert", erklärt die Mutter. Im Vergleich zu den früheren Problemen im Schulsystem kann der Jugendliche damit aber ganz gut leben - und die Eltern auch.

"Schule unterdrückt so vieles"

"Unser Ziel ist, dass unsere Kinder unbeschadet durch die Schule kommen. In der Schule wird so vieles unterdrückt und abgetötet: Freies Denken, Motivation, Leistungsbereitschaft!"
Bei Tims jüngeren Geschwistern, die ebenfalls hochbegabt sind, machen die Eltern einiges anders. Die Geschwister wurden vorzeitig eingeschult, der Jüngste besucht nicht die Grundschule im Dorf, in der seine älteren Geschwister große Probleme hatten.

"Eltern müssen für ihre Kinder einstehen"

Die 42-Jährige, die übrigens gerade auf Lehramt studiert, ist inzwischen der Meinung, dass sich nicht die Kinder an das System anpassen müssen, sondern es sei Aufgaben der Eltern, die Bedürfnisse ihrer Kinder in die Schule zu tragen. Leider sei es in den allermeisten Fällen so, dass Lehrer sich mit dem Thema Hochbegabung zu wenig auskennen. "Ihnen fehlt in vielen Fällen Wissen und Methodik." Deshalb sei es noch immer Aufgabe der Eltern, Aufklärungsarbeit zu leisten. 

"Du bist richtig, so wie du bist"

Noch wichtiger ist der Mutter aber, die Kinder zu bestärken. "Du bist richtig, so wie du bist", versucht sie ihren Kindern zu vermitteln. Und: "Ich glaube an dich!"
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*Tim ist ein erfundener Name. Wir respektieren den Wunsch der Familie, die Geschichte anonym zu erzählen, um die Kinder zu schützen. Der Redaktion ist der richtige Name bekannt.

Hochbegabte Kinder langweilen sich in aller Regel im Unterricht. Vor allem an Grundschulen sind ihnen die Wiederholungen zu viel und die Wissensvermittlung geschieht zu langsam.  | Foto: Grafik: dab
Autor:

Miriam Dabitsch aus Velbert

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