240 Anfragen in zwei Jahren
Mit Unterstützung raus aus dem Missbrauch
Neue Anfragen kommen nicht jeden Tag. Aber wenn das Telefon klingelt, wird es meist ernst. Rund 240 Anfragen, Beratungsgesuche und Hilferufe sind in den vergangenen zwei Jahren bei Heike Pöppinghaus und ihrem Team beim Kinderschutzbund Essen eingegangen. Immer ging es um sexuelle Gewalt.
Anrufen kann beim Beratungsangebot "Sexualisierte Gewalt" grundsätzlich jeder, der zumindest ein Gefühl hat, dass etwas nicht stimmt. "Das ist in Ordnung, man muss uns keine handfesten Beweise vorlegen", betont Heike Pöppinghaus, Fachbereichsleitung Kinderschutz beim Essener Kinderschutzbund. Eine erste Beratung kann anonym erfolgen.
Erste Anlaufstelle
Das kann ein Lehrer sein, eine Erzieherin oder eine Schulsozialarbeiterin, die sich melden. Das macht etwa die Hälfte der Anrufer aus. "Meist schildern sie uns ihren Verdacht und fragen, was sie jetzt machen sollen", berichtet Pöppinghaus aus dem Beratungsalltag. Im individuellen Gespräch, meist bei einem ersten persönlichen Termin, werden dann weitere Schritte besprochen, beispielsweise, dass der Anrufer das Gespräch zum Kind oder dessen Eltern sucht. "Wir treten in diesem Szenario erstmal gar nicht auf", erläutert die Diplom-Sozialpädagogin. Ziel dieses Weges ist, das Vertrauen des Kindes so weit zu stärken, dass es sich der Bezugsperson öffnet.
Betroffene vertrauen sich oft niemandem an
"Das ist schon eine riesige Herausforderung. Oftmals kommen Kinder erst damit raus, was ihnen widerfahren ist, wenn sich die Situation gebessert hat." Zum Beispiel, wenn der übergriffige Onkel weggezogen ist, oder wenn die Kinder erwachsen geworden sind und das Zuhause verlassen haben.
Aber warum öffnen sie sich nicht früher? "Sie können nicht einschätzen, was passiert, wenn sie den Missbrauch jemandem verraten - zumal ihr Peiniger ihnen das ja ganz klar verbietet und möglicherweise Konsequenzen androht. Das macht ihnen Angst", sagt die Kinderschützerin. Und so bleiben sie oft viel zu lange allein mit ihrer Not.
Unbedingt offen und geduldig sein!
Deshalb rät die Expertin Personen, die Kontakt zu möglicherweise missbrauchten Kindern haben, unbedingt offen und geduldig zu sein. "Lassen Sie dem Kind die Zeit, die es braucht, und machen Sie deutlich, dass es mit allen Themen zu Ihnen kommen kann", rät die Expertin. "Versuchen Sie ihm die Angst zu nehmen, indem Sie deutlich machen, dass Sie das Kind ernst nehmen."
Keinesfalls Druck aufbauen!
Auf keinen Fall sollte die Bezugsperson Druck aufbauen und Informationen einfordern - "das funktioniert nicht", sagt Pöppinghaus. So weit es möglich ist, wird das Kind auch in die nächsten Schritte involviert, darf mitentscheiden, wo es möglich ist. Die Beratungsstelle begleitet diesen Prozess - oftmals über mehrere Wochen.
Kindeswohl gefährdet?
Allerdings gibt es eine Ausnahme: Wenn das Kindeswohl akut gefährdet ist, muss das Kinderschutz-Team schnell reagieren und das Kind in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt aus der Gefahrensituation bringen. Deshalb ist es grundsätzlich schwierig für das Team, wenn ein Elternteil unter Verdacht steht. "Das erfordert besonderes Fingerspitzengefühl."
Mädchen häufiger betroffen als Jungs
Anrufe von Angehörigen, Verwandten, Nachbarn, Freunden oder den Betroffenen selbst machen die andere Hälfte der Beratungen aus. "Meist geschieht sexueller Missbrauch im sozialen Umfeld, innerhalb der Kernfamilie, durch Verwandte, neue Partner oder Freunde der Eltern", weiß die Diplom-Sozialpädagogin. Männer werden deutlich häufiger zu Tätern. "Aber es gibt auch Frauen, die entweder wegsehen und nicht einschreiten oder sogar selbst zu Täterinnen werden", sagt Pöppinghaus. Auch in Vereinen, Schulen, bei Freizeitbeschäftigungen oder Ferienfreizeiten sind Kinder nicht vor sexuellen Übergriffen sicher. Mädchen sind häufiger betroffen als Jungen. "Grundsätzlich ist Missbrauch da möglich, wo eine Person das Vertrauen des Kindes erlangt." Hellhörig werden sollten Bezugspersonen, wenn das Kind von sich aus Dinge erzählt, die auf sexuelle Gewalt hindeuten. "Das machen Kinder niemals ohne Grund, auch wenn die Erzählung nicht unbedingt 1:1 stimmen muss", weiß die erfahrene Expertin.
Den Missbrauch schneller beenden
Dass das Beratungsangebot keinen Missbrauch im Vorfeld unterbinden kann, ist Heike Pöppinghaus klar. "Ich verstehe es als unsere Aufgabe, den Missbrauch schneller zu beenden und dem Missbrauchsopfer bei der Bewältigung zu helfen, zum Beispiel durch Therapieangebote." Und weiter: "Es ist ein Erfolg, wenn ein Kind dank unserer Unterstützung den Ausweg aus dem Missbrauch findet und irgendwann sieht, dass es eine Zukunft hat, ohne dass die Erfahrungen das Leben bestimmen, dann sind das die Erfolge, für die wir jeden Morgen aufstehen".
Tipps: Wie verhalte ich mich richtig?
->Warnzeichen: Ein Kind in Ihrem Umfeld hat sich plötzlich verändert. Es zieht sich zurück, weicht bei bestimmten Menschen aus, macht einen bedrückten Eindruck und erzählt nichts mehr. "Das alles kann, muss aber nicht auf einen sexuellen Missbrauch hinweisen", betont Heike Pöppinghaus.
->Wenn Sie dieses Gefühl beschleicht, dass etwas nicht stimmt, stellen Sie sich die Frage, seit wann Sie dieses Gefühl haben und welche Situation dem vorausgegangen ist.
-> Bleiben Sie eng am Kind, bieten Sie Gespräche an, ohne Druck aufzubauen.
->Nehmen Sie ruhig schon in diesem Stadium Beratung in Anspruch. Kontaktdaten finden Sie auf
https://www.hilfe-portal-missbrauch.de. Im Idealfall kann durch die Beratung der Verdacht entkräftet werden - oder das Kind erfährt dadurch möglichst früh Hilfe. Hören Sie auf Ihr Bauchgefühl
Hintergrund
In Essen gibt es seit Dezember 2021 die Fachstelle "Spezialisierte Beratung bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche". Sie besteht aus Fachpersonal des Essener Kinderschutzbundes sowie der städtischen Erziehungsberatungsstelle JPI, die etwa noch einmal so viele Anfragen hatte wie das Team rund um Heike Pöppinghaus.
Das Land NRW hat nach den Missbrauchsskandalen von Lüdge und Bergisch Gladbach 150 zusätzliche Stellen geschaffen, um gegen sexualisierte Gewalt vorzugehen. Nicht nur in Essen, sondern auch in allen anderen Städten und Landkreisen in NRW wurden solche Beratungsangebote ausgebaut.
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