Hochbegabt
Mit sieben Jahren in der vierten Klasse
Wenn Pia* zwischen ihren Klassenkameraden steht, fällt der Altersunterschied nicht gleich ins Auge. Erstaunlich eigentlich, schließlich sind die jüngsten Kinder in der Klasse immer noch zwei Jahre älter als Pia.
Pia ist sieben Jahre alt und besucht die vierte Klasse einer Grundschule. Sie fühlt sich wohl, der Unterrichtsstoff langweilt sie nicht mehr allzu arg, sie wird von ihrer Lehrerin akzeptiert - kurz: Pia ist angekommen. Bis hierhin war es allerdings ein wechselhafter und steiniger Weg, berichtet ihre Mutter Marie*.
Unzufrieden im Kindergarten
Schon im Alter von drei Jahren merkte die Familie, dass Pia im Kindergarten unzufrieden war. "In der Einrichtung spielte Freispiel eine große Rolle und schon nach wenigen Monaten wurde uns klar, dass das für Pia zu wenig war", erinnert sich ihre Mutter. Ein paar Monate später, Pia war inzwischen vier Jahre alt, sagte sie, dass sie in die Vorschule wolle. "Das durfte sie aufgrund ihres Alters nicht", ärgert sich Marie. Und so blieb ihr nur, auf den wöchentlich stattfindenden Musikunterricht in der Kita hinzufiebern, das einzige Zusatzangebot in der Einrichtung. Die Eltern spürten die Unzufriedenheit ihrer Tochter. Ein IQ-Test brachte das Ergebnis: Pia ist hochbegabt.
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Mit vier Jahren in die Vorschule
Wie eine glückliche Fügung ergab sich, dass in Corona-Zeiten eine neue Vorschule an der Grundschule im Ort eingerichtet wurde. Vormittags wurden dort Kita-Kinder betreut, ab mittags auch Grundschüler. "Mit den Verantwortlichen hatten wir ein spannendes Gespräch. Obwohl Pia erst vier Jahre alt war, ist den Erziehern der Altersunterschied gar nicht aufgefallen und schnell stand fest, dass sie in die Vorschule gehört", erinnert sich die Mama. Doch die Ruhe dauerte nicht lange, denn nach der Vorschule folgt bekanntlich die Einschulung. Und die mit gerade fünf Jahren "durchzuboxen" war auch nicht einfach.
Skeptikern zum Trotz in die Schule
"Ich will keine Absicht unterstellen. Dennoch war auffällig, dass wichtige Unterlagen für die Einschulung nicht bei uns ankamen. Dass wir zum Gespräch mit der Schulpsychologin geladen wurden und erst vor Ort erfuhren, dass Pia das Gespräch alleine führen sollte. Ähnlich war es beim Gespräch mit der Grundschule. Die Einladung richtete sich an uns als Familie, aber wir Eltern mussten draußen warten. Nicht jedes Kind bleibt mit fünf Jahren mit mehreren Erwachsenen alleine in einem Raum und beantwortet Fragen", fasst Marie ihre Erfahrungen zusammen. Aber Pia überzeugte alle Skeptiker und war glücklich, als sie schließlich ihren Tornister packen durfte.
Lehrerin akzeptierte Fünfjährige nicht
Das Glück währte nicht lange. "Die Klassenlehrerin hat Pia wegen ihres Alters nicht akzeptiert", sagt Marie. Sie habe die Meinung vertreten, eine Fünfjährige solle spielen statt lernen. Pia hat damals schon zu ihrer Mutter gesagt, dass sie gerne spiele, aber eben auch lernen wolle. "Das konnte sie schon voneinander trennen", sagt Marie. Sie erinnert sich an einen Schultag, als die Kinder einen Text aus der Fibel vorlesen sollten. "Pia hat einen Text aus dem hinteren Teil des Buches ausgewählt und flüssig vorgelesen. Die Lehrerin sagte daraufhin, das könne nicht sein, Pia hätte den Text auswendig gelernt. Pia las einen weiteren Text vor und brachte die Pädagogin so zum Schweigen. Ein Lob für ihre Lesefähigkeiten erhielt sie aber nicht", berichtet Marie. Die Folge: Pia hatte immer häufiger schlechte Laune und begann an sich zu zweifeln. "Mama, ich kann nichts", hat sie nach drei Monaten in der ersten Klasse zu Marie gesagt. Da wusste die Mutter, so kann es nicht weitergehen.
"Pia muss die Schule verlassen"
Es folgten Gespräche mit dem Schulpsychologen und der Schulleitung, die relativ schnell zu den Eltern sagte, sie könne ihre Kollegin nicht ändern und Pia müsse die Schule verlassen. "Das war für uns eindeutig", schildert Marie.
Die Familie nutzte den Schulwechsel und verband ihn mit einem Klassensprung. Fortan war Pia Zweitklässlerin. Der Beginn an der neuen Grundschule war durchaus vielversprechend, zunächst lief alles gut. Aber nach ein paar Monaten traten neue Probleme zu Tage. "In Pias Klasse gab es viele soziale Schwierigkeiten. Die Lehrer waren damit voll ausgelastet, es blieb keine Zeit für Differenzierung", beschreibt die 42-jährige Mutter. Die Langeweile kehrte zurück, Pias Leid begann von vorne.
Erneuter Schulwechsel
Also machte sich die Familie wieder auf die Suche nach einer neuen Schule, der Wechsel erfolgte nach der dritten Klasse. Nun ist Pia in der vierten und ihr geht es gut. "Pia wird akzeptiert von Seiten der Schule, es herrscht ein gutes Klima in der Klasse und ein wertschätzender Umgang mit allen Schülern", beschreibt Marie. Pia schreibt Einsen und Zweien, ohne zu lernen. Manchmal erhält sie Ersatzaufgaben, manchmal darf sie im Unterricht ein Buch lesen, wenn sie früher fertig ist mit den gestellten Aufgaben. "Ihr ist insbesondere im mathematischen Bereich immer noch langweilig", sagt die Mutter. Da wundert es nicht, dass die Familie gedanklich schon den nächsten Klassensprung durchspielt. "Perfekt wäre es für sie aktuell in der fünften Klasse", meint Marie. Mal sehen, ob Pia beim Übertritt auf die weiterführende Schule in der Klasse fünf oder sechs startet... "Das ist noch offen", erklärt die Mutter.
"Kampf lohnt sich"
"Es ist ein harter Kampf, die Interessen des Kindes durchzusetzen. Aber er lohnt sich!", ist die Mutter überzeugt. Und wie hat Pia die zahlreichen Schul- und Klassenwechsel erlebt? "Gut", antwortet Marie ohne zu zögern. "Ihr ging es immer darum, ihre Situation zu verbessern." Pia ist ein ausgeglichenes Kind, das gerne liest, schwimmt, radfährt und malt. Kontakte zu knüpfen fällt ihr leicht, sozial hatte die Siebenjährige bislang nie Probleme. "Wenn wir Kindergeburtstag feiern, kommen Kinder aus allen ehemaligen Schulen, der Kita und der jetzigen Klasse zusammen", sagt Marie.
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*Pia und Marie sind erfundene Namen. Wir respektieren den Wunsch der Familie, die Geschichte anonym zu erzählen, um das Kind zu schützen. Der Redaktion ist der richtige Name bekannt.
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