Mit 41 Jahren Hochbegabung festgestellt
"Lange bin ich so durchgerutscht"
Dr. Sarah Kißler ist ihren Weg gegangen: Abitur, Physik-Studium, Promotion. Auch privat läuft alles gut. Sie ist verheiratet und hat zwei gesunde Kinder. Aber woher rührt diese ständige Unzufriedenheit?
Vorweg gesagt, darauf hat die 42-Jährige auch heute noch keine Antwort. Aber vor rund einem Jahr ist sie ihr ein Stückchen näher gekommen, als sie sich zu einer IQ-Testung entschloss. Das Ergebnis: Hochbegabung.
"Das hat mich verwirrt"
"Wenn ich zurückblicke, erklärt das einiges. Ich verstehe jetzt mehr als vor dem Testergebnis." Zum Beispiel, dass sie zu Beginn des Physik-Studiums "gar nicht klar kam", wie sie sagt. Die Essenerin erinnert sich noch genau an den Tag, als den "Erstis" die Bibliothek gezeigt wurde mit den Worten: "Hier könnt ihr euch Bücher ausleihen und lernen." "Das hat mich verwirrt. Denn ich dachte, die Vorlesungen zu besuchen reicht - wie in der Schule auch - vollkommen aus."
An der Uni erst gelernt zu lernen
Wie sich erst an der Uni herausstellte, hatte Kißler nicht gelernt zu lernen. Selbst das Abi hatte sie ohne großen Aufwand gemeistert. "Mir fehlten Strategien zum Lernen. Vor der Abiprüfung habe ich in meinen Büchern geblättert und war der Meinung, ich hätte richtig viel getan. Ich bin durch die Schule einfach so durchgerutscht."
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Start auf der Realschule
Die Eltern hatten sie zunächst auf der Realschule angemeldet, weil noch niemand aus der Familie aufs Gymnasium gegangen war und weil Sarah so still war. Blickt sie heute zurück, weiß sie, warum sie sich in der Schule nur selten gemeldet hat. "Ich habe die Aufgaben oft nicht verstanden, wusste nicht, was der Lehrer als Antwort hören wollte, musste meine Wortbeiträge präzise durchdenken, was Zeit kostete." Als sie im Schullandheim eine zufällig ebenfalls anwesende Klasse eines Gymnasiums aus ihrer Heimatstadt Bielefeld kennenlernte, wusste Kißler, wo sie hinwollte. Tatsächlich wurde der Wunsch wahr und sie wechselte nach zwei Jahren Realschule auf das Gymnasium. Dort war sie anstrengend für die Lehrer, weil sie so vieles hinterfragte, aber eine durchweg gute Schülerin.
Negatives Feedback von Professoren
Damit war an der Uni Schluss. Kißlers erste Klausur, eine Drei minus, zog sie ganz schön runter. Als sie dann noch in Mathe durchfiel und sich negatives Feedback von Professoren, Tutoren und Kommilitonen häuften, wurde sie mental in ein tiefes Loch gerissen. Sie suchte Hilfe in einer Beratungsstelle der AWO für junge Erwachsene - und fand sie auch. "Die Coachin brachte mir bei, genauer zu lesen und nicht gleich aufzugeben, wenn ich etwas nicht verstand. Das habe ich als anstrengend empfunden."
Die Wende
Ausgestattet mit dem "neuen" Durchhaltevermögen und der Motivation, sich selbst Dinge beizubringen, schaffte Kißler dann ihren Abschluss und promovierte sogar. Aber in der Forschungseinrichtung, in der sie als Doktorandin und nach der Promotion als Projektleiterin arbeitete, fühlte sie sich nie 100-prozentig wohl. "Ich wollte mich unbedingt anpassen, um dazu zu gehören, habe sogar eine Stilberatung in Anspruch genommen, um kleidungstechnisch nicht aufzufallen", berichtet die zweifache Mutter. Aus heutiger Sicht kein Wunder, dass ihr einmal vom Arbeitgeber gesagt wurde, sie käme nicht authentisch rüber.
Sie fühlte sich "anders"
Oftmals hatte sie eine andere Auffassung als ihre Kollegen und Vorgesetzten, wollte größer und freier denken, wenn es um neue Projekte ging, und auf der anderen Seite beim wissenschaftlichen Arbeiten präziser als ihr Umfeld agieren. Als ihr Arbeitsvertrag nicht verlängert wurde, sagte ihr Mann nur: "Gott sei dank!"
Sehr hohe Ansprüche an sich selbst
Die promovierte Physikerin kehrte ihrer Leidenschaft den Rücken und stieg im Familienunternehmen ihres Mannes ein. Dort, so beschreibt sie ihre Position, ist sie bis heute als "Problemlöserin" tätig, optimiert Prozesse im Unternehmen. Richtig zufrieden ist sie aber auch hier nicht. "Meine selbst gesetzten Ansprüche sind so hoch, daran kann ich nur scheitern", glaubt sie. Ob die Hochbegabung da mit reinspielt, ist sie nicht sicher. "Ich habe zwar in dem einen Jahr seit der Testung viele Bücher zum Thema gelesen, aber habe das Thema noch nicht vollständig durchdrungen", so die 42-Jährige. Auch die Erwartung, dass sich mit der Feststellung der Hochbegabung ihre immer mal wieder auftretenden psychischen Probleme lösen, wurde enttäuscht.
Auch eigene Kinder sind hochbegabt
Deshalb kann sie auch nicht einschätzen, ob die Entdeckung ihrer Hochbegabung ihr Leben zukünftig verändern wird. Einfluss hat sie indes auf ihre eigenen Kinder. Die wurden zwischenzeitlich auch getestet, sind beide ebenfalls hochbegabt und werden entsprechend gefördert. Die Tochter wurde früher eingeschult, der Sohn besucht neuerdings einen "Forderkurs Mathe" für in diesem Fach fitte Kinder an der Grundschule. "Ich finde schon gut, wenn man als Kind erfährt, dass man hochbegabt ist", sagt Kißler - auch wenn sie nicht glaubt, dass ihr bisheriges Leben anders verlaufen wäre. "Ich bin meinen Weg gegangen, auch ohne das Wissen um meine Hochbegabung."
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