Vorurteile gegenüber Hochbegabten
"Ich wurde als hysterische Mutter abgestempelt"

Eltern hochbegabter Kinder sehen sich vielen Vorurteilen ausgesetzt. Sie werden oft abgestempelt.  | Foto: foturo / Pixabay
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  • Eltern hochbegabter Kinder sehen sich vielen Vorurteilen ausgesetzt. Sie werden oft abgestempelt.
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Wissen Sie, ob es in Ihrem Umfeld hochbegabte Menschen gibt? Aber dass der Nachbarsjunge ein guter Fußballer ist oder die Tochter der Freundin sehr gut Flöte spielen kann, das ist Ihnen bekannt. Warum ist das so? 

Clara* ist 46 Jahre alt, lebt mit Mann und Sohn in Hessen und hat aufregende Jahre hinter sich. Seit ihr Sohn Paul* (heute acht Jahre) eingeschult wurde, hatte die Familie Stress mit der Klassenlehrerin. Die bescheinigte Paul einen "enormen Förderbedarf", sah ihn richtiger auf einer Förderschule aufgehoben. Diese Einschätzung teilten Pauls Eltern gar nicht. Der Junge war problemlos zweisprachig aufgewachsen und zeigte sich zu Hause als vielseitig interessiertes Kind.

Zuerst ungläubig, dann wütend

Clara erfuhr, wie es sich anfühlt, wegen ihres Kindes abgestempelt zu werden. Zunächst hörten die Eltern ungläubig zu, was die Klassenlehrerin über ihren Sohn äußerte, dann kam die Wut und der Wille zu kämpfen. Zum Glück blieben Clara und ihr Mann ihrer Meinung treu. Im Juli 2022 wurde eine Hochbegabung bei Paul festgestellt.

Im Kindergarten aufgefallen

Lange vor dem IQ-Test stand eine Hochsensibilität bei dem Jungen fest. "Schon im Kindergarten wurde ich von den Erziehern angesprochen, dass Paul sich ,anders' verhält. Er spiele nicht mit gleichaltrigen Kindern und habe eine sehr enge Bindung zu mir, seiner Mutter." Clara ging darauf nicht weiter ein, wehrte die Hinweise der Erzieher ab. Zu Hause machte sie sich Gedanken, aber stand zu ihrer Meinung, dass alles okay sei mit Paul. 

"Mach sie weg"

In der Grundschule dann fiel Paul stärker auf. Auf Fragen seiner Klassenlehrerin antwortete er kategorisch mit "keine Ahnung". "Das macht er gegenüber Menschen, die er nicht einschätzen kann und die ihm unsympathisch sind", weiß die Mutter. Die Situation spitzte sich bis zum Lockdown zu. Als Paul vor dem Computer sitzend seine Lehrerin erblickte, begann er zu weinen und zu schreien: "Mach sie weg."
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Wer schätzt Paul falsch ein? 

Das war der Punkt, als die Familie die Notbremse zog. Da waren die Fronten zwischen der Familie und der Schule schon verhärtet. Dabei hatten die Eltern anfänglich noch auf die Klassenlehrerin gehört und eine ganze Reihe psychologischer Untersuchungen veranlasst. "Alle ohne Ergebnis", so die 46-Jährige. Das änderte aber auch nichts an der Meinung der Lehrkraft, die in ihr eine hysterische Mutter sah, die ihr Kind völlig falsch einschätzte.

"Nehmt nicht alles hin, was andere sagen"

"Das nährt Zweifel, nicht nur beim Kind, sondern auch bei uns", weiß Clara. Sie ist stolz, dass sie ihrer Linie treu geblieben ist und rät anderen Eltern: "Nehmt nicht alles hin, was vermeintliche Experten sagen. Hinterfragt die Aussagen, bildet euch eine eigene Meinung und bleibt hartnäckig!" Geholfen hat ihr dabei die Unterstützung von Familienangehörigen und Freunden, die sie die ganze Zeit über in ihrem Tun bestärkt haben. 

Die volle Palette Vorurteile

Seit Paul auf eine Privatschule geht, hat sich die Situation entspannt. Dort wurde die Familie offen aufgenommen. Dennoch ist Clara zurückhaltend, wenn es um Pauls Hochbegabung geht. "In der Regel ist es so, dass man die volle Palette Vorurteile zu hören bekommt." Ob das Kind denn schon etwas komponiert habe? Wie viele Sprachen es spricht? Und ob sie als Mutter stolz auf die Intelligenz sei? "Alles Quatsch", sagt Clara, "wieso sollte ich auf etwas stolz sein, für das mein Kind gar nichts kann? Ich bin doch auch nicht stolz auf die Augenfarbe meines Kindes."

Keine Lust mehr, mit Klischees aufzuräumen

Das Thema sei in der Gesellschaft wenig präsent und stark vorurteilsbehaftet. Sie sei es einfach Leid, immer und immer wieder aufzuklären und mit Klischees aufzuräumen. Und so hält sie meist einfach den Mund, wenn es um Talente der Kinder geht. Mit einer Ausnahme: "Wenn ich das Gefühl habe, jemandem helfen zu können, spreche ich das Thema an und gebe gerne mein Wissen weiter." Das hat sie sich, wie wohl fast alle Eltern hochbegabter Kinder, selbst angelesen. "Es war ein bisschen gruselig, aber auch erleichternd, als ich ein Buch zum Thema Hochbegabung las und dachte, woher kennt der Autor mein Kind?" 

Ehrgeizige Mutter triezt Sohn zu Leistungen

Mit den Vorurteilen der Gesprächspartner hört es aber nicht auf. Clara musste sich schon von anderen Eltern anhören, dass sie Paul das Wissen eintrichert, ihn zu Hochleistungen triezt. "Das ist völlig aus der Luft gegriffen, Paul saugt Wissen auf wie ein Schwamm", sagt die 46-Jährige. Oder dass sie eine Helikopter-Mutter sei, die die Begabung ihres Sohnes überschätze. Das liegt begründet in dem Vorurteil, dass alle Hochbegabten "Wunderkinder" seien.

Neidfaktor spielt eine Rolle

"Ich habe das Gefühl, dass beim Thema Intelligenz sehr schnell Neid im Raum steht", sagt Clara. Noch ein Grund mehr für sie, sich mit dem Thema "nur den Allerwenigsten" anzuvertrauen. Das stimmt sie traurig. "Wieso ist es voll akzeptiert, dass jemand im Sport begabt ist, aber nicht, dass jemand besonders intelligent ist?" Und das nicht nur beim "Drüber-Reden", sondern auch beim Training. "In Bildungseinrichtungen werden intelligente Kinder ausgebremst. ,Das musst du noch nicht können' oder das lernst du später' seien häufige Aussagen. Auf dem Fußballplatz habe ich so etwas noch nie gehört", sagt Clara. 

Aufklärung als Lösung

Als Mutter wünscht sie sich einen offenen Umgang mit dem Thema, ohne doofe Sprüche und Vorurteile. Aber bis es so weit ist, braucht es noch ganz viel Aufklärung, ist sie sicher.
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*Clara und Paul sind erfundene Namen. Wir respektieren den Wunsch der Familie, die Geschichte anonym zu erzählen, um das Kind zu schützen. Der Redaktion ist der richtige Name bekannt.

Eltern hochbegabter Kinder sehen sich vielen Vorurteilen ausgesetzt. Sie werden oft abgestempelt.  | Foto: foturo / Pixabay
Autor:

Miriam Dabitsch aus Velbert

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