INKLUSION
Ergänzende unabhängige Teilhabe-Beratung zieht positive Bilanz

Von links nach rechts: Meike Gormanns (Lebenshilfe Essen e.V.), Christina Müller (Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfe behinderter Menschen in Essen e.V.), Astrid Jakobs (Aktion Menschenstadt/Behindertenreferat des Evangelischen Kirchenkreises Essen) und Ursula Bongers (Soziales Netzwerk Integration und Inklusion für Menschen mit Behinderung SoNII e.V.) haben ihre Räume im Haus der Begegnung an der 1. Weberstraße 28. Nicht im Bild, aber ebenfalls Mitglied des Teams: Simone Himmelberg-Krüger (Palette an der Ruhr e.V.).
  • Von links nach rechts: Meike Gormanns (Lebenshilfe Essen e.V.), Christina Müller (Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfe behinderter Menschen in Essen e.V.), Astrid Jakobs (Aktion Menschenstadt/Behindertenreferat des Evangelischen Kirchenkreises Essen) und Ursula Bongers (Soziales Netzwerk Integration und Inklusion für Menschen mit Behinderung SoNII e.V.) haben ihre Räume im Haus der Begegnung an der 1. Weberstraße 28. Nicht im Bild, aber ebenfalls Mitglied des Teams: Simone Himmelberg-Krüger (Palette an der Ruhr e.V.).
  • hochgeladen von Stefan Koppelmann

Seit einem Jahr gibt es in Essen ein neues Beratungsangebot: Die „Ergänzende unabhängige Teilhabe-Beratung (EuTB)“ wurde in ganz Deutschland eingeführt, damit Menschen mit Handicaps ihr Recht auf unterstützende Leistungen für ein selbstbestimmtes Leben und gesellschaftliche Teilhabe in allen Lebensbereichen besser wahrnehmen können. Die Einrichtung dieser Beratungsstellen ist nicht zuletzt eine Folge der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 auch in Deutschland gilt und eine Umsetzung des Rechts auf Teilhabe fordert.

Nach und nach sind in Essen vier neue EuTB-Beratungsstellen mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten entstanden. Hinter ihnen stehen mehrere Anbieter, die sowohl aus dem Bereich der Selbsthilfe stammen als auch Träger der Behindertenhilfe bzw. Träger von Hilfen für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen sind. Drei dieser Beratungsstellen wenden sich in erster Linie an Menschen mit Sprech- und Sprachstörungen, blinde und sehbehinderte Menschen sowie gehörlose, taube und schwerhörige Menschen.

Die vierte EuTB-Beratungsstelle wird gemeinsam von fünf Einrichtungen getragen und unterstützt vor allem Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, Lernbehinderungen, psychischen Handicaps und auch körperlichen Behinderungen: Meike Gormanns (Lebenshilfe Essen e.V.), Christina Müller (Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfe behinderter Menschen in Essen e.V.), Astrid Jakobs (Aktion Menschenstadt/Behindertenreferat des Evangelischen Kirchenkreises Essen), Ursula Bongers (Soziales Netzwerk Integration und Inklusion für Menschen mit Behinderung SoNII e.V.) und Simone Himmelberg-Krüger (Palette an der Ruhr e.V.) haben ihre Räume im Haus der Begegnung in der I. Weberstraße 28, nur wenige Schritte von der Kreuzeskirche entfernt.

Im November letzten Jahres konnte sich das fünfköpfige Team über positive Nachrichten aus Berlin freuen: Nachdem das Angehörigen-Entlastungsgesetz durch Bundestag und Bundesrat verabschiedet wurde, soll die bisherige Projektförderung der EuTB-Beratung durch eine dauerhafte Finanzierung aus dem Bundeshaushalt abgelöst werden; jährlich stehen dafür 65 Millionen Euro zur Verfügung. Wir haben mit den fünf Mitgliedern des Teams über die Aufgaben ihrer Beratungsstelle und die bisherigen Erfahrungen gesprochen:

Warum wurden die EuTB-Beratungsstellen gegründet?

Das Ziel von Inklusion ist es, die bestehenden Sonderstrukturen für Menschen mit Behinderung in den Bereichen Schule, Arbeit, Wohnen und Freizeit allmählich abzuschaffen. Menschen mit einem oder mehreren Handicaps sollen genauso individuell leben und handeln können wie Menschen ohne Behinderung. Wegen ihrer Beeinträchtigung haben die Betroffenen aber oftmals große Schwierigkeiten, sich im Dschungel der Behörden, Antragsverfahren und verschiedenen Anbieter von Hilfen zurechtzufinden. Wo kann ich eine Unterstützung beantragen, wer ist mein Ansprechpartner, welches Formular ist das richtige?

Wäre es dann nicht gut, wenn Sie die Formulare einfach selbst ausfüllen und auch gleich abschicken, stellvertretend für die Antragssteller?

Nein, das entspricht nicht unserer Aufgabe. Zuerst klären wir, über welche Fähigkeiten und Ressourcen die Betroffenen selbst verfügen; wenn sie damit einverstanden sind, können Familienangehörige oder andere Vertrauenspersonen gerne dabei mithelfen. Anschließend finden wir gemeinsam mit ihnen heraus, was sie benötigen, um möglichst selbstbestimmt und individuell zu leben. Als nächstes ist die Frage wichtig, wie wir sie stärken und befähigen können, damit sie ihre Entscheidungen für eine Hilfe oder ein Angebot eigenverantwortlich treffen. Und schließlich haben wir eine Lotsen-Funktion – das bedeutet, dass wir viele Anbieter kennen und wissen, welcher Antrag wo gestellt werden kann, welche Informationen dafür besonders wichtig sind und was noch alles dabei zu beachten ist.

Selten reicht dafür ein einziger Beratungstermin; fast immer sind mehrere Treffen und eine intensivere Assistenz nötig. Besonders häufig ist das der Fall, wenn eine Beeinträchtigung erst im Erwachsenenalter diagnostiziert wird: Plötzlich stehen die Betroffenen vor großen Herausforderungen, scheitern oft im Berufsleben, geben ihr bisheriges Freizeitverhalten auf und ziehen sich in sich selbst zurück. Dann kommt es zunächst darauf an, eine gute Perspektive für die nächsten, ganz konkreten Schritte zu entwickeln und nach den passenden Unterstützungsmöglichkeiten zu suchen.

Auch die Kostenträger selbst sind heute dazu verpflichtet, Betroffene zu beraten. Warum reicht das nicht aus?

Unser Angebot macht vor allem deshalb Sinn, weil es unabhängig von den Kostenträgern erfolgt, überparteilich organisiert wird und nur den Ratsuchenden verpflichtet ist. Die fünf Partner sorgen zudem für eine verlässliche und bei Bedarf sehr kurzfristige Erreichbarkeit, gewährleisten regelmäßige Öffnungszeiten und garantieren eine qualifizierte und kompetente Besetzung der Beratungsstelle. Auch das sogenannte Peer Counseling, die Beratung von Betroffenen durch Betroffene, wird von uns angeboten und spielt im Konzept der EuTB eine wichtige Rolle.

Vielfach ist es zunächst nötig, die Betroffenen erst einmal über ihre verschiedenen Ansprüche und Rechte aufzuklären und ihnen dabei zu helfen, komplizierte Formulierungen und Fachausdrücke in Gesetzen, Verordnungen und Vordrucken zu verstehen. Nur wer weiß, welche Möglichkeiten überhaupt vorhanden sind, kann sich zwischen verschiedenen Angeboten entscheiden. Konkrete finanzielle, personelle oder technische Hilfsmittel gibt es bei uns nicht. Aber wir können den Ratsuchenden wichtige Tipps geben, wo sie die nötigen Leistungen erhalten und beantragen können.

Wie wird Ihr Angebot angenommen und von wem?

Die Zahl der Beratungsfälle steigt beständig. Die Betroffenen waren bislang zwischen einem und 91 Jahren alt. Die meisten Ratsuchenden hatten eine körperliche Behinderung – ob von bereits von Geburt an oder später durch Krankheit, einen Unfall oder eine Operation erworben. Dann folgen Menschen mit chronischen Erkrankungen, psychischen Handicaps und schließlich kognitiven Beeinträchtigungen.

Welche Themen werden bei den Beratungsterminen besonders häufig angesprochen?

In unseren Gesprächen geht es sehr oft ganz praktisch um eine Hilfe bei der Antragstellung; manchmal werden wir um Rat gefragt, weil ein erster Antrag abgelehnt wurde. Anlässe können die Beantragung eines Schwerbehindertenausweises, die Versorgung mit bestimmten Hilfsmitteln, der Bedarf an besonderen Pflege- und Assistenzleistungen, die Erlangung von Mobilität bzw. der Umbau des eigenen PKWs sein. Aber auch eine Unterstützung zur Fortsetzung oder Aufnahme einer der beruflichen Tätigkeit, der Auszug aus dem Elternhaus, Formen des ambulant betreuten Wohnens und Möglichkeiten der Teilhabe am Kultur- und Freizeitleben sind Themen.

Wir arbeiten nach dem Prinzip „Eine für alle“ und stehen allen Menschen mit drohender oder eingetretener Behinderung und ihren Angehörigen für Fragen der Teilhabe in allen Lebensbereichen zur Verfügung. Besondere Voraussetzungen – wie zum Beispiel eine besondere Schwere der Beeinträchtigung – gibt es nicht.

Gibt es Fälle, bei denen Sie an Grenzen stoßen?

Grundsätzlich ist die Einrichtung von flächendeckenden und regelfinanzierten EuTB-Beratungsstellen eine wichtige Voraussetzung, um Menschen mit Handicaps umfassend und neutral über ihre rehabilitations- und sozialrechtlichen Ansprüche aufzuklären, und fördert somit die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Trotzdem stoßen wir bei unserem Bemühen, Menschen mit Handicaps ein möglichst selbstbestimmtes und individuelles Leben und Arbeiten zu ermöglichen, immer wieder an Grenzen: Etwa, weil der Kostenträger nur einen Fahrdienst vorsieht, der von mehreren Menschen gleichzeitig genutzt werden soll und auf individuelle Bedürfnisse keine Rücksicht nehmen kann. Auch beim Umfang und der täglichen Dauer von Assistenzleistungen gibt es noch viel zu verbessern, damit Menschen ihren Arbeitsplatz nicht verlieren und trotz eines hohen Hilfebedarfs gut und eigenständig leben können.

Und natürlich haben wir uns über die Nachricht gefreut, dass Gesundheitsminister Jens Spahn seinen Vorschlag, alle Menschen über 18 Jahren, die auf eine ständige Beatmung angewiesen sind, in (ab-)gesonderten stationären Einrichtungen statt in ihrem gewohnten sozialen Umfeld zu betreuen, wieder zurückgezogen hat und noch einmal überdenken will. Ein möglicher Abrechnungsbetrug durch Anbieter von ambulanter Beatmungspflege, den er gerne verhindern will, lässt sich viel besser durch entsprechende Auflagen und engmaschige Kontrollen vermeiden.

Wie können Ratsuchende Sie erreichen?

Unsere Telefonnummern lauten 0201 84676355 und 0201 84676354, die Faxnummer ist 0201 85093092. Per Mail erreichen Sie uns unter der Adresse beratung(at)EuTB-essen.de. Alle unsere Räume sind barrierefrei mit dem Rollstuhl zugänglich. Im Internet finden Interessierte unter teilhabeberatung.de ein barrierefreies Webportal mit zahlreichen Informationen über das neue Beratungsangebot und einer Suchmöglichkeit nach allen rund 400 Beratungsstellen in Deutschland – mit verschiedenen Filtern nach Ort, Form der Beeinträchtigung usw.

Autor:

Stefan Koppelmann aus Essen

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