Anja Deufel fördert Hochbegabte im Unterricht
"Bloß nicht einfach nur Zusatzaufgaben geben!"
Anja Deufel ist Oberstudienrätin an einem Gymnasium in Mettmann. Sie kennt sich mit Hochbegabung aus und bietet differenzierten Unterricht an. Wie das gelingt und warum viele Lehrkräfte nicht wissen, wie sie hochbegabte Schüler individuell fördern können, hat sie im Interview verraten.
Wie viele Ihrer Kollegen kennen sich mit Hochbegabung aus?
In den meisten Kollegien kennt sich fast niemand mit dem Thema aus, obwohl sicherlich einige großes Interesse daran hätten, sich fortzubilden. An unserer Schule wurde vor viereinhalb Jahren zum Beispiel ein Forder-Förderprojekt gestartet, und die Initiative dazu kam aus dem Kollegium. Nach meiner Erfahrung entsteht Engagement in Schule zu diesem Thema zu 99 Prozent aus persönlicher Betroffenheit durch Schüler in der eigenen Klasse oder die eigenen Kinder. Weder im Lehramtsstudium noch im Referendariat wird Hochbegabung thematisiert und es gibt kaum Weiterbildungsangebote.
Was sind die Folgen für hochbegabte Schüler?
Die traurige Folge ist, dass viele hochbegabte Schüler durchs Netz fallen, weil es einfach an Kentnissen fehlt. Entweder werden sie nicht erkannt, weil sie nicht auffallen - weder durch besonders gute Leistungen noch durch ihr Verhalten. Oder sie zeigen ihre Langeweile und Unterforderung beispielsweise durch Verhaltensauffälligkeiten. Dann werden sie sogar häufig als minderbegabt eingestuft. Für nicht hochleistende Hochbegabte ist an den wenigsten Schulen Platz.
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Wieso haben Hochbegabte so eine geringe Lobby? Hochbegabung betrifft in NRW immerhin rund 70.000 Schüler.
In den vergangenen Jahrzehnten hat die Politik hingegen immer wieder betont, dass es wichtig sei, leistungsschwache Schüler zu fördern. Es geht besonders in NRW immer darum, Kinder in den Fokus zu rücken, die sich schwer tun. Hinzu kommt der weit verbreitete Irrglaube, dass Hochbegabte keiner Förderung bedürfen, gemäß dem Motto: die sind intelligent, die kriegen das alleine hin. Verschiedene Studien, von PISA über IGLU bis TIMMS, belegen jedoch, dass die Leistungsspitze zu wenig gefördert wird. Andere Bundesländer wie Bayern sind da weiter, da gibt es durchaus Best-Practice-Beispiele.
Welche Möglichkeiten bietet das nordrhein-westfälische Schulsystem denn für hochbegabte Schüler?
Es gibt eine Broschüre des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) mit dem Titel "Begabte Kinder finden und fördern". Darin gibt das Ministerium Schulen verschiedene Empfehlungen, angefangen vom Drehtür-Modell*, Enrichment-Angeboten** über Akzeleration*** bis hin zur Bildung von Profilklassen für Hochbegabte. In der Realität verwalten die Schulen in NRW seit Jahren den Mangel: Es gibt zu wenig Personal, zu wenig Räumlichkeiten und zu wenig finanzielle Mittel. Das macht die Umsetzung dieser Empfehlungen fast unmöglich. Und wenn sich tatsächlich eine nicht verplante Lehrerstunde findet und ein freier Raum, dann tritt wieder das Problem der fehlenden Kenntnisse der Lehrkräfte auf. Die meisten wissen gar nicht, wie sie eine Förderung Hochbegabter ausgestalten sollen.
Bei einem Klassensprung muss die gesamte Klassenkonferenz zustimmen. Machen die Kollegen das nicht, weil sie zum Beispiel der Auffassung sind, dass ein Schüler, der in einem Fach Vieren oder Fünfen schreibt, nicht überspringen sollte, ist die Sache vom Tisch. Dabei ist es genau andersrum: Bei Underachievern**** muss erst Enrichment oder Akzeleration erfolgen, dann können Selbstvertrauen, Motivation und gute Noten entstehen!
Auch beim Drehtür-Modell ist der Schüler auf die Freigabe der Lehrer angewiesen. Ist die Lehrkraft aber der Meinung, ihr Unterricht sei so wichtig, dass der Schüler ihn nicht verpassen dürfe, sagt sie einfach Nein und das war's. Eltern müssen dann kämpfen und sich an den Schulleiter wenden, in der Hoffnung, dass der interveniert.
Welche der genannten Maßnahmen ist Ihrer Meinung nach die beste zur Förderung hochbegabter Kinder?
Studien haben klar erwiesen, dass beschleunigtes Lernen, also eine rechtzeitige Einschulung und das Überspringen von Klassen, die besten Erfolge erzielen. Die Kinder werden herausgefordert, sie lernen zu lernen und haben Erfolgserlebnisse.
Auch das Drehtür-Modell kann erfolgsversprechend sein. Der Schüler lernt in einem oder mehreren Fächern in einer höheren Klasse, muss aber zugleich auch den verpassten Stoff nacharbeiten. Es gibt ganz charmante Modelle, zum Beispiel, dass ein hochbegabtes Kind ab der siebten Klasse statt einer neuen Fremdsprache gleich zwei lernt und jeweils nur die Hälfte des angebotenen Unterrichts besucht. Oder ein Kind überspringt eine Klasse und macht die Drehtür "nach unten", um nicht ein ganzes Jahr einer Fremdsprache nacharbeiten zu müssen.
Woran erkennen Sie hochbegabte Schüler?
Durch meine Zusatzausbildung als "Expert in Educating the Gifted" (ECHA-Diplom) erkenne ich hochbegabte Kinder - und sie finden mich. Hellhörig werde ich bei ungewöhnlich hoher Intensität zum Beispiel beim Nachdenken, großem Interesse an naturwissenschaftlichen Themen, aber auch bei ungewöhnlich langsamen Arbeitstempo oder einer ausgeprägten Zurückhaltung des Kindes. Erhärtet sich mein Verdacht, bitte ich die Eltern zum Gespräch. Oft folgt dann die Testung.
Was machen Sie im Unterricht anders als viele Ihrer Kollegen?
Im Unterricht streiche ich diesen Kindern Aufgaben, denn weniger Wiederholungen bedeuten weniger Langeweile. Hochbegabten genügt ein Drittel an Wiederholungen im Vergleich zu normalbegabten Kindern. Begabte Schüler erhalten von mir andere Aufgaben, zum Beispiel habe ich eine Dreiergruppe in der sechsten Klasse, die die zusätzliche Zeit nutzt, um ein zum Unterrichtsthema passendes Referat vorzubereiten. Wichtig ist, auch hier klare Erwartungen zu formulieren und das Ergebnis einzufordern, denn das zeigt echtes Interesse des Lehrers.
Es gibt eine Menge an Arbeitsmaterial für begabte Schüler, da habe ich einen Fundus, sammle immer noch weiter und benutze es immer wieder. Das ist gar nicht so viel Mehrarbeit, wie manche Kollegen denken.
Ein weiterer häufig gemachter Denkfehler ist, dass das Vergeben zusätzlicher Aufgaben hilft. Stellen Sie sich vor, Sie haben einen großen Korb weißer T-Shirts vor sich, versehen mit dem Auftrag, diese schnell und ordentlich zu bügeln. Ihnen wird in Aussicht gestellt, dass Sie einen weiteren Korb mit weißen Rüschenblusen bekommen, aber nur, wenn Sie die erste Aufgabe zufriedenstellend gelöst haben. Das motiviert niemanden.
Welche Erfolge haben Sie mit Ihren Methoden erzielt?
Es gab Schulverweigerer, die ich wieder in die Schule bewegen konnte. Kinder, die nach einem Sprung bessere Noten und eine bessere soziale Einbindung haben. Und Eltern, die ein deutlich entspannteres Familienleben haben.
Viele Eltern berichten, dass sich Schulen unkooperativ zeigen, wenn es um die Förderung Hochbegabter geht. Was raten Sie ihnen?
Da bleibt nur eins: die Schule wechseln! Außerdem empfehle ich Eltern, sich mit dem Schulgesetz vertraut zu machen. Nur wer weiß, was möglich ist, kann das auch durchsetzen. Alternativ können Eltern professionelle Unterstützung mit ins Gespräch nehmen.
Wie kann Ihrer Meinung nach die Situation für Hochbegabte im Regelschulsystem verbessert werden?
Ich würde mir wünschen, dass Fortbildungen zum Thema Hochbegabung in der Lehrerausbildung und -fortbildung einen festen und angemessenen Platz bekommen und alle Kollegen Angebote erhalten, sich auch innerschulisch dazu fortzubilden, ebenso wie dies beim Thema Inklusion der Fall ist. Dies macht Lehrkräfte nicht sofort zu Experten, aber kann zumindest ihre Haltung verändern. Aktuell denken viele Lehrer, dass hochbegabte Kinder einfach nur anders und komisch sind. Es würde schon viel bewirken, wenn sie das Potenzial sehen würden und den Schülern vermitteln könnten: "Du bist richtig, so wie du bist."
Auch die Arbeitsbelastung der Lehrer muss gemindert werden. Wir haben in jeder Unterrichtsstunde so viele Aufgaben und Herausforderungen, sei es die Arbeit mit Kindern aus sozial benachteiligten Familien, Inklusionskindern oder Kindern mit Migrationshintergrund ohne Deutschkenntnisse, sei es der Umgang mit den durch Corona entstandenen Kompetenz- und Wissenslücken, sei es die unfassbar gestiegene Arbeit an Verwaltungs- und Dokumentationsaufgaben. Das alles bei dramatischem Lehrermangel - da fällt die pädagogische Arbeit insgesamt und damit natürlich auch das Thema Hochbegabung häufig hintenüber.
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*Das ist ein Konzept, wonach talentierte Schüler stunden- oder tageweise ihre Lerngruppe verlassen und zum Beispiel in höheren Klassen mitarbeiten.
**Es werden zusätzliche Angebote zum Unterricht gemacht, beispielsweise thematisch zum Unterricht passende, aber anspruchsvollere Aufgaben gestellt.
*** das Überspringen einer Klasse.
**** Das sind Kinder, die trotz hoher intellektueller Begabung sehr schlechte Schulleistungen erbringen.
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