Essener Reformationsfeier
Vom Aufbrechen in unsicheren Zeiten
Schön war's, stimmungsvoll und einfach auch ein gutes Gefühl nach der Corona-Pause im letzten Jahr: Mit berührenden Geschichten vom Aufbrechen – erzählt mit Worten und Tönen, in Predigtimpulsen, mit Gesang, Tanz und Liturgie – hat die Evangelische Kirche in Essen am 31. Oktober in der Kreuzeskirche den Jahrestag der Reformation gefeiert.
Was geschieht mit uns, wenn sich vertraute Ordnungen ändern? Kann Kirche – als Ort der Beständigkeit, der Bewahrung und Tradition – sich bewegen, aufbrechen? Die Suche nach Antworten fordert uns heraus – und das ganz besonders in einer Zeit, in der wir uns unserer Verletzlichkeit fast täglich neu bewusst werden und die Sehnsucht nach Stabilität und einem festen Untergrund wächst.
In dieser Situation hilft uns die Vergewisserung, dass wir „nicht mit leeren Taschen unterwegs sind“, wie Silke Althaus, Skriba des Kirchenkreises Essen, in ihrer Begrüßung sagte. „Im Gegenteil – sie sind bis zum Rand gefüllt mit Gottes guten Worten – Worten voller Hoffnung, Glauben, Liebe.“ Wie sieht das also konkret aus?
Predigtimpuls I
„Gott ist mit denen, die aufbrechen“ – davon erzählt das Buch Exodus, das Pfarrerin Maren Wissemann aus der Kirchengemeinde Borbeck-Vogelheim in den Mittelpunkt ihres Predigtimpulses stellte. Gottes Volk will frei, ohne Unterdrückung leben – der Aufbruch erfolgt im Schutz der Nacht, hastig, ohne großes Gepäck. „Wer aufbricht, lässt viel zurück. Aber wer aufbricht, gewinnt auch viel. Weite. Freiraum. Offenheit. Neue Ansichten und ungeahnte Möglichkeiten.“ Die Israeliten können sich auf Gott verlassen – er zieht immer vor ihnen her, tagsüber in einer Wolkensäule, nachts in einer Feuersäule. So verlieren sie nie das Ziel aus den Augen. Der Weg ist kein Spaziergang, aber: „Nicht das Fragen, Jammern und Klagen hilft uns weiter. Nur wer losgeht, findet einen Weg.
Und wie ist es mit der Kirche heute? „Wenn wir auf unsere kirchliche Zukunft blicken, sehen wir heute auch ziemlich viel Wüste und Dunkelheit vor uns“, stellte Maren Wissemann fest. „Aber wir werden nur durchkommen, wenn wir losgehen. Es wird sich nur etwas ändern, wenn wir uns ändern. Da geht kein Mose vor, kein Kirchenkreis und keine Landeskirche. Bewegung kommt rein, indem sich die Menschen bewegen. Die Gemeinden. Wir gemeinsam. So geht evangelisch.“
Die Zeichen von Gottes Nähe wandern vor uns her, verborgen in einer Wolke von Träumen und Hoffnungsbildern, die uns in die Zukunft leiten. Maren Wissemann: „Wie die Feuersäule wirft Gottes Verheißung einen Lichtkegel durch die Nacht auf das gelobte Land vor uns: Da wird immer noch eine Kirche sein. Kleiner. Beweglicher und leichter. Freier und lebendiger. Vertrauen wir der Feuer- und Wolkensäule von Zukunftsträumen und Hoffnungslicht?“
Predigtimpuls II
Im zweiten Predigtimpuls berichtete Silke Althaus, die auch Pfarrerin in Kettwig ist, über Erfahrungen mit der Rauminstallation „aufbrechen“; sie ist aktuell in der dortigen Kirche am Markt zu sehen. Neun Kirchenbänke wurden aus ihren Verankerungen gelöst und teilweise übereinander getürmt, sodass inmitten des Kirchschiffs eine neue Mitte entsteht – doch die traditionelle, scheinbar für alle Ewigkeiten festgefügte Sitzordnung ist zerstört.
Unzählige Menschen kommen und schauen den „ver-rückten“ Kirchraum an, schreiben ihre Kommentare ins Gästebuch, diskutieren. „Hervorragend.“ – „Was für ein Chaos.“ – „Endlich Bewegung.“ – „Verstörend.“ – „Befreiend.“ – Menschen kommen nicht mehr in den Gottesdienst. „Das ist nicht mehr meine Kirche. Ich fühle mich fremd und verloren.“ Andere kommen zum ersten Mal und sagen: „Dass Kirche das mit ihrer Kirche macht! Was für ein Aufbruch. Endlich.“
Kann Kirche – als Ort der Beständigkeit, der Bewahrung und Tradition, sich bewegen – aufbrechen? „Der verschobene Raum lässt mich spüren, was Aufbruch von uns verlangt. Sich entheimaten. Befremden. Den Unwillen, die Verlorenheit empfinden. Es gibt noch keine Lösungen, nichts ist fertig. Aber die Bewegung ist da… Meine Heimat Kirche bricht auf. Lässt Vertrautes zurück. Die Chance, die darin liegt, könnte sein, unseren Raum neu zu verstehen – uns neu in diesem Raum zu verstehen. Oder all jene besser zu verstehen, die sonst nicht in diesen Raum kommen, weil er ihnen so fremd ist.“
Predigtimpuls III
Im Predigtimpuls von Jan Vicari, Pfarrer an der Essener Marktkirche, ging es um den Aufbruch der Jünger. „Jesus schickt seine Jünger los, mit einem Auftrag, aber ohne Vorräte und großes Gepäck. Eine ganze Rede - die Aussendungsrede - mit einer Frage im Raum: Was braucht es wirklich?“ Das ist die Exodus-Erfahrung: „Man kann nicht so viel mitschleppen, wenn man den Weg in ein neues Leben sucht.” Weder das ausziehende Volk noch die nachfolgende Kirche können das.
Aufbrechen heißt demnach, mit dem vertrauten Eigenen zu brechen. Im Aufbruch steckt eben der Bruch. Alles kommt auf den Prüfstand. Und doch – die biblische Geschichte weitet den Blick. Denn es geht gar nicht um uns, wie Jan Vicari deutlich machte: „Hier wird Raum gemacht für Andere. Da bleiben gewohnte Gepäckstücke zuhause, damit Andere aushelfen können. Damit sie Teil dieser Reise werden.“
Denn die so aus dem Gewohnten ver-rückten Boten kommen als die Schwachen: als die Schutzlosen, die Schlafplatzsucher, die Magenknurrer und Duschwasser-Ersehner. "Wie ihre Reise läuft, haben sie nicht selbst in der Hand: Angewiesen sind sie auf offene Türen, die Tische und Töpfe ihrer Gastgeber*innen." Ob die auch offene Ohren haben, soll sich nicht am glänzenden Auftreten der Boten entscheiden. Schutzlos suchen ihre Worte neue Heimat, in fremden Küchen und Wohnzimmern unterwegs.
„Was also braucht es wirklich? Ich kann das nicht komplett durchdenken – was das für die Kirche als Ganze hieße: Ob es auch ohne unser Ansehen, Vermögen und Privilegien ginge, ohne Regeln, Konzepte und scheinbar feste Aufgaben“, meint Jan Vicari. „Nur in kleinen Schritten ahne ich, was es heißen könnte. Als wir neulich die Marktkirche ausgeräumt haben, zum Beispiel, für LICHT & SEGEN zum Essen Light Festival. Versucht haben, uns bis zur Schmerzgrenze auf dieses Festival einzulassen, auf das Lebensgefühl dieser leuchtenden Abende. Mit den Menschen gestaunt haben im Lichterschein. Mit ihren Klängen den Raum gefüllt haben. Und ihnen die Freiheit gelassen haben, wie lange sie Teil dieser Reise sein wollen. Was für uns dabei unverzichtbar war: Der Osterkerzenschein. Und: verschenkte Segensworte, die schutzlos neue Heimat suchen.“
Tanz und Gesang berührten
Darko Radosavljev und Julius Olbertz tanzten die biblischen Zukunftsträume und heutige Hoffnungslichter zu Klängen von Flügel (Thomas Rudolph) und Percussion (Jörg Ritter). Den stimmungsvollen Rahmen bilden die Motetten „Das ist je gewißlich wahr“ und „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“ von Heinrich Schütz, klangschön vorgetragen durch das Ensemble Vollklang. Das alles gab der Sehnsucht nach Aufbruch und Ankunft einen Raum, das berührte die Besucherinnen und Besucher in ihrem tiefsten Inneren und dafür gab es am Ende ganz zurecht langanhaltenden Applaus.
Mitwirkende
Mitwirkende waren Skriba Silke Althaus, Pfarrerin Maren Wissemann und Pfarrer Jan Vicari (Liturgie und Worte), Andrea Fischer (Lesungen), Darko Radosavljev und Julius Olbertz (Tänzer der Folkwang-Companie), das Vokalensemble Vollklang (Gesang), Jörg Ritter (Percussion) und Thomas Rudolph (musikalische Leitung und Orgel). Für das Catering im Anschluss sorgte das Diakonie-Restaurant Church; ein gut eingespieltes Team des Kirchenkreises, der Altstadtgemeinde und des Studierendenzentrums garantierte den reibungslosen organisatorischen Ablauf unter den Bedingungen der Corona-Pandemie.
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