Seit mehr als zehn Jahren geht es ihr an den Kragen - eine Woche mit dem Binder
Ist die Krawatte noch zu retten?

September 1987: Der Auszubildende mit der stolzen Mutter: Marc Keiterling mit Mutter Karin. Foto: Sonntag
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  • September 1987: Der Auszubildende mit der stolzen Mutter: Marc Keiterling mit Mutter Karin. Foto: Sonntag
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Müssen Nachrichtensprecher Krawatte tragen?

Der "Sonnenkönig" höchstselbst gilt einer Legende nach als ihr erster großer Fan. Im Rahmen einer Truppenparade entdeckte König Ludwig XIV vor 356 Jahren ein schleifenartig gebundenes Stück Stoff am Kragen kroatischer Reiter. Die "Cravate" übernahm er anschließend. Über Jahrhunderte erfreute sich das Accessoire großer Beliebtheit.  

Doch seit mehr als zehn Jahren geht es der Krawatte nun mehr und mehr an den Kragen. Verlässlich tragen sie nur noch die Sprecher von Tagesschau (ARD) und Heute (ZDF). Musiker und Moderator Götz Alsmann hält ihr ebenfalls die Treue.

Krawattenmann Alsmann und
die Nachrichten-Herren

Doch schon bei den Nachrichtenverkündern in den dritten Programmen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens fehlt sie meist. Von Vorständen großer Konzerne, Vorsitzenden bedeutender Institutionen, dem Bankmitarbeiter in der Filiale und sonstigen Herren im öffentlichen Raum ganz abgesehen.

Ist eine Nachricht mit offenem Kragen eigentlich seriös genug präsentiert. Was meint Ihr?

Zum Glühwein beim "Weihnachtsmarkt" der FUNKE-Mediengruppe kamen drei Redakteure dieses Hauses in der letzten Woche auf das Thema. Kernfrage: "Ist die Krawatte noch zu retten?" Das Trio beschloss: Eine Woche kommen wir mit Binder zur Arbeit. Jeden Tag ein anderes Modell. Vielleicht können wir motivieren? Oder einfach amüsieren? Wir werden lesen!

Stilvoll auf der Dampflok
und in der Führungsetage

Einst trugen Führer von Dampflokomotiven trotz schmutziger Arbeit zuweilen Krawatte. Traditionsunternehmen wie die Robert Bosch GmbH erwarteten in ihrem Haus das Tragen von Krawatten. Geschäftsführer eines Zeitungsverlages etwa hätten niemals auf Krawatten verzichtet.

Meister des lässigen Tragens:
"Mr. Sportstudio"Dieter Kürten

Für mich wäre das Ding damals – ab September 1987 - verzichtbar gewesen. Aber: Augen auf bei der Berufswahl. Wer Kaufmann im textilen Einzelhandel lernt, hat es am Hals. Besonders, wenn er seine Ausbildung bei C&A absolviert. Dunkler Anzug, unifarbiges Oberhemd in Weiß oder maximal Hellblau, dezent gemusterter Schlips. Das Sakko war gefälligst geschlossen zu tragen, das Hemd war selbstverständlich bis oben zu schließen, der Knoten stramm unter dem Kragen. Ich hätte eher die Variante „kontrolliert gelockert“ vorgezogen. Lässig fand ich es, wie „Mr. Sportstudio“, Dieter Kürten, den Binder während seiner Moderationen in den 1980er Jahren trug. War bei C&A nicht verhandelbar.

Zurück in die Gegenwart. Auch viele Politiker verzichten mittlerweile vor, während und nach Sitzungen des Deutschen Bundestages in Berlin auf dieses Kleidungsstück. Während Abgeordnete der Grünen – vom einstigen Abgeordneten Otto Schily (später als SPD-Mitglied auch Bundesinnenminister) abgesehen – sich ohnehin nie an die zuvor praktizierte „Kleiderordnung“ hielten, präsentieren sich heute auch Konservative wie der amtierende Innenminister Horst Seehofer zuweilen mit Hemd/Pullover-Kombination. Bereits 2014 wurde im Bundestag auf Antrag der Präsidiumsmitglieder Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grüne) und Petra Pau (Die Linke) die Krawattenpflicht für Schriftführer abgeschafft.

Eine „Kleiderordnung“ für die Parlamentarier, wäre so etwas angebracht?

Die Krawatte verdankt ihre Verbreitung einer beliebten Legende zufolge einer Truppenparade im Jahr 1663 vor dem noch im Bau befindlichen Schloss Versailles für den bereits erwähnten französischen König Ludwig XIV. Zu dieser Parade war auch ein kroatisches Reiterregiment aufmarschiert. Diese Reiter trugen der Überlieferung nach ein Stück Stoff, das am Kragen in Form einer Schleife befestigt wurde und deren Enden über der Brust hingen. Dieser Bestandteil der Uniform der Kroaten zog angeblich die Aufmerksamkeit des Königs auf sich, der die „Cravate“ anschließend übernahm und innerhalb des Adels verbreitete.

Der große Knick kam
mit der Bankenkrise

Warum ging es mit ihr rund 340 Jahre später in der Akzeptanz und Verbreitung so steil bergab? Einen entscheidenden Knick markiert die Bankenkrise 2008. Banker, Manager und artverwandte Herren waren fortan gesellschaftlich zumindest zeitweise geächtet. Wer Krawatte trug, musste doch irgendwie mit zu jenen „Raffzähnen“ gehören, die mit ihren Spekulationen die Ersparnisse der Menschen in Gefahr gebracht hatten! Und so blieben die Herren zwar in ihren Designeranzügen stecken, rissen sich aber vermehrt den Hemdkragen auf. Motto: So sind wir nicht, wir können verzichten. Es folgte der „Casual Friday“, die in vielen Unternehmen praktizierte Gepflogenheit, freitags von der strengen Kleiderordnung abzurücken und statt der sonst üblichen Geschäftskleidung legere Freizeitkleidung zu tragen. Seltsamerweise, während gleichzeitig die Kollegen am Empfang oft weiterhin Anzug/Krawatte oder Kostüm/Halstuch tragen.

Und heute? Heute scheint die ganze Woche Freitag zu sein! Vermisst Ihr in Geschäften oder allgemein bei Unternehmen eine klassischere Bekleidung?

Zurück zu meiner Person. Noch bis 1996 arbeitete ich in meinem gelernten Beruf als Verkäufer von Herrenbekleidung, seither hänge ich mir kaum noch einen Binder unters Kinn. Doch jetzt kehrte die Motivation zurück. Zumindest in dieser Dezemberwoche 2019. Fünf Tage „mit“ hintereinander – das habe ich seit über 20 Jahren nicht mehr gemacht. Morgens das Sakko gedämpft, das Hemd und den Binder noch mal aufgebügelt, viel mehr Aufwand als sonst. Selbst die morgendliche Übung hat irgendwie Spaß gemacht.

Was macht die Bekleidung
mit dem Menschen?

Eine Kollegin aus der Redaktion merkte an, ich sei noch höflicher als sonst. Der Kollege Köster meinte, ich würde aufrecht-repräsentativ durchs Haus laufen. Wirkt sich also die klassisch-konservative Bekleidung - zumindest bei mir - positiv auf Sozialverhalten und Haltung aus? Alles in allem: Wir hatten diese Woche Spaß und haben uns über die verständnislosen Blicke und Fragen im Haus teilweise köstlich amüsiert. Außerdem war deutlich zu merken, dass man mit Krawatte aktuell gegen den „Mainstream“ gerichtet ist. Und das finde ich ohnehin und grundsätzlich nicht so übel. Sondern gut!

Micky Maus und Asterix am Kragen? Der Kollege Michael Köster hat einst auch mal kunterbunte Exemplare getragen - und behalten: https://www.lokalkompass.de/essen-borbeck/c-lk-gemeinschaft/micky-maus-und-asterix-am-kragen_a1270560

Warum muss die Krawatte gerettet werden? Hier der Beitrag des Kollegen Thomas Knackert: https://www.lokalkompass.de/velbert-langenberg/c-kultur/warum-muss-die-krawatte-gerettet-werden_a1270707

Autor:

Marc Keiterling aus Essen

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