Orientierung im Graffiti-Dschungel von Essen-Frohnhausen
Grundbegriffe der Graffiti-Kultur
Während der Corona-Lockdowns der letzten Monate lag das öffentliche kulturelle Leben weitestgehend brach. Eine Kunstform ist in dieser Zeit jedoch aufgeblüht: Graffiti an Mauern und Hauswänden. Offenbar hatten viele Jugendliche und junge Erwachsene wenige Möglichkeiten ihre Freizeit zu gestalten. Zusätzlich hat ihnen der Distanzunterricht an Schulen und Universitäten vereinfacht spät nachts noch unterwegs zu sein.
Inwiefern Graffiti als Kunstform bezeichnet werden sollte, ist umstritten. Das Aufsprühen von Schriftzügen auf Häuserwände, Bahnanlagen, Züge und LKWs ist zweifellos Vandalismus und Sachbeschädigung. Wenn man jedoch näher hinschaut, sieht man, dass einige Graffiti von erheblichem Können der Sprayer zeugen und von ihnen zweifellos ein ganz eigener ästhetischer Reiz ausgeht. Auch wenn man wenig von der Materie versteht, kann man auf den ersten Blick dilettantisch, durchschnittlich und virtuos ausgeführte Graffiti unterscheiden.
In der Zeit der Corona-Lockdowns bin ich viel durch Essen-Frohnhausen und die angrenzenden Viertel spaziert und geradelt und habe zahlreiche Graffiti fotografiert. Daneben habe ich mich mit der Geschichte der Graffiti-Kultur beschäftigt (siehe weiterführende Informationen unten). In diesem Artikel erkläre ich die wichtigsten Begriffe und Hintergründe zur Graffiti-Kultur anhand von Beispielen von Graffiti in Essen-Frohnhausen und den angrenzenden Vierteln. Da ich nur lokale, momentan existierende Graffiti zeige, sind nicht alle Beispiele von herausragender Qualität.
Graffiti werden bevorzugt an Orten gesprüht an denen nachts keine Menschen unterwegs sind, und die gut vom vorbeifahrenden Verkehr aus, insbesondere Straßenbahnen, sichtbar sind. In Essen-Frohnhausen finden sich Anhäufungen von Graffiti insbesondere an Wänden entlang der A40. Dort befindet sich auch eine U-Bahn-Trasse.
Am Bahnhof Essen-Frohnhausen finden sich viele sorgfältig ausgeführte Graffiti. Um den Bahnhof Essen-West hingegen fällt ein massiver Vandalismus durch Tags an den umliegenden Gebäuden auf.
Der Ursprung der heutigen Graffiti-Kultur liegt im New York der 60er Jahre. Ein griechischer Botenjunge hinterließ an verschiedenen Orten in der Stadt seine Signatur „Taki 183“, bestehend aus seinem Spitznamen und seiner Hausnummer. Andere begannen ihn nachzuahmen. Anstatt selber durch die Stadt zu laufen, hinterließen die Jugendlichen ihre Signaturen (Tags) später bevorzugt in den U-Bahnen, damit diese durch die Stadt fuhren. Das Innere der U-Bahnen war in dieser Zeit mit zahlreichen solcher Tags übersät. In den frühen 80er Jahren besprühten Jugendliche insbesondere das Äußere der New Yorker U-Bahnen großflächig. Die U-Bahnen fuhren an einigen Strecken oberirdisch, wodurch die Graffiti gut sichtbar waren. Sprühdosen waren schon Jahrzehnte vorher erfunden worden und stellten sich nun als das ideale Werkzeug heraus. Es lässt sich großflächig damit malen und sie sind leicht zu transportieren.
Diese frühe New Yorker Graffitiszene ist insbesondere im Spielfilm „Wild Style!“ (1982) und dem Dokumentartfilm „Style Wars“ (1983) dokumentiert. Das Buch „Subway Art“ (1984) von Martha Cooper und Henry Chalfant zeigt Fotografien von besprühten U-Bahnen und erklärt zugehörige Grundbegriffe. Diese historischen Dokumente sind frei im Internet verfügbar (siehe unten). Sie sind immer noch relevant, da sich an den Grundkonzepten und Begriffen bis heute wenig geändert hat.
Taki 183 erklärte später die Motivation für das Malen von Tags und Graffiti so: „Ich denke Graffiti ist deswegen so attraktiv für Kids, weil es ein günstiger Weg zu einem Bekanntheitsgrad ist und man schnell Aufmerksamkeit erlangt. Du musst kein großartiger Athlet oder ein gut gelehrter Schüler, du kannst ein großartiger Writer sein und jeder wird es mitbekommen, dich kennen und darüber sprechen.“ Eine Grundmotivation für das Malen von Graffiti ist also das Erlangen von Fame (Ruhm, Anerkennung) durch andere Sprayer und durch Passanten. Es gibt drei wesentliche Möglichkeiten Fame zu erlangen: durch Qualität, Quantität oder Wahl des Ortes. Graffiti hoher Qualität sind besonders aufwendig gestaltet und haben einen eigenständigen, ausgefeilten Stil. Eine hohe Quantität lässt sich durch das Sprayen hunderter Tags und einfacher Graffiti in einem Gebiet erreichen. Graffiti an besonders schwer zu erreichenden Orten, z.B auf hoch gelegenen Wänden genießen ebenfalls hohes Ansehen. Eine weitere Motivation von der Sprayer berichten ist der Adrenalinkick, den sie durch illegale Aktionen bekommen. Bei künstlerisch ambitionierten Sprayern ist darüber hinaus von einer hohen intrinsischen Motivation auszugehen, wie bei jeder anderen künstlerisch-schöpferischen Tätigkeit.
Im Kern ist Graffiti Kalligrafie. Es geht um eine originelle Darstellung von Schrift. Sprayer sprechen von „writing“, also dem Schreiben von Graffiti. Meist wird dabei das Tag des Sprayers, bestehend aus einigen wenigen Buchstaben, dargestellt. In Essen haben viele Tags eine englische Anmutung. Politische Spruchgraffiti werden meist auf deutsch verfasst. Weitere Sprachen sind in Essen sehr selten anzutreffen.
Bei aufsteigendem Aufwand lassen sich Graffiti in Form von Tags, Throw-Ups und Pieces unterscheiden. Oft findet man Graffiti mit dem selben Schriftzug ausgeführt auf diese drei Arten in einem Viertel.
Ein Tag ist die einfach ausgeführte Signatur eines Sprayers. Sprayer versuchen diese an möglichst vielen Orten anzubringen. Da die Tags sehr schnell mit Marker (Filzstift) oder Sprühdose geschrieben werden, sind diese meist als reine Linien ausgeführt. Hier ist die Verwandtschaft mit klassischer Kalligrafie am ehesten zu erkennen. Gute Tags beinhalten originelle grafische Ideen, vergleichbar mit den Schriftlogos von Firmen.
Die massive Anhäufung von Tags an manchen Orten ist mit für das schlechte öffentliche Image von Graffiti verantwortlich. Die künstlerische Schöpfungshöhe ist hier niedrig. Es entsteht ein Eindruck von Vandalismus und Verwahrlosung. Oft ist zu beobachten, dass ein erstes Tag an einer Wand innerhalb kürzester Zeit durch weitere Tags ergänzt wird. In der Soziologie wird hier vom Broken-Window-Effekt gesprochen, bei dem erste Anzeichen von Vandalismus und Verwahrlosung weitere nach sich ziehen.
Als Throw-Up wird ein einfach gestaltetes Graffiti, oft bestehend nur aus Umriss (Outline) und Füllung (Fill-in), bezeichnet. Die Füllung ist manchmal nur schnell als Schraffur ausgeführt. Solche einfachen, schnell erstellten Graffiti werden bevorzugt in hoher Anzahl in einer Gegend angebracht (Bombing).
Ein aufwendiges großflächiges Graffiti wird als Piece (kurz für Masterpiece) bezeichnet.
Jeder Sprayer hat seinen eigenen, persönlichen Stil, der sich über die Zeit entwickelt. Anfänger werden manchmal abwertend als Toys und deren technisch und stilistisch unausgegorenen Werke als Toy Style bezeichnet. Einen guten eigenen Stil zu entwickeln ist einer der wesentlichen Wege, um in der Szene Anerkennung zu erlangen. Die meisten Graffitisprayer verfeinern ihren Stil, indem sie Skizzen in ihren Skizzenbüchern (Black Book) anfertigen. Es lassen sich einige bekannte Stilrichtungen unterscheiden, etwa der Straight-, Bubble- und Wildstyle. Blockbuster und Rollerpieces sind blockförmige Graffitiarten. Daneben gibt es immer wieder individuelle Stile, die keiner klaren Stilrichtung zuzuordnen sind.
Als Straight Style (bzw. Straight Letters) werden Graffiti mit geradlinigen, gut lesbaren Buchstaben bezeichnet.
Beim Bubble Style wirken die Buchstaben wie runde Blasen.
Beim Wild Style sind die Buchstaben miteinander verbunden und wild ineinander verschlungen. Der Schriftzug ist so meist nicht mehr lesbar. Pfeile sind ein typisches dekoratives Element im Wild Style.
Große blockartige Graffiti werden als Blockbuster bezeichnet. Dieser Stil wurde entwickelt, um darunter liegende Graffiti gut abzudecken. Silberne Sprühfarbe wird gerne von Sprayern genutzt, weil sie die darunter liegenden Farbschichten besonders gut abdeckt. Hier spricht man von einem Silver Piece.
Ebenfalls blockartig wirken Roller Pieces. Diese werden nicht gesprüht, sonder mittels Farbrollern gemalt. Mittels Verlängerungsstangen lassen sich so auch hoch gelegene Wände erreichen. Farbroller kommen auch zum Einsatz wenn Sprayer eine weiße Grundierungsschicht auf eine Wand anbringen, um vorhandene Farbschichten abzudecken, bevor sie ihr eigenes Graffiti anbringen.
Daneben gibt es zahlreiche individuelle Stile, die sich einer Kategorisierung entziehen. Das folgende Graffiti greift offenbar den Stil japanischer Schwerter auf. Das Wort Neko bedeutet auf japanisch Katze.
Bemerkenswert in Essen ist auch eine Serie geometrisch-abstrakter Graffiti.
Zur Ausschmückung der Graffiti-Buchstaben werden einige typische Elemente verwendet: dreidimensionale Effekte, Licht und Schatten, weitere Linien innerhalb und außerhalb der Buchstaben und zusätzliche Elemente wie Blasen, Sterne, Pfeile, Punkte etc. Im Hintergrund ist oft eine Farbwolke zu sehen (Cloud), die ggf. darunterliegende Graffiti abdeckt.
Beigefügte Comicfiguren (Characters) können ebenfalls als Dekoration zum eigentlichen Schriftzug eingesetzt werden oder für sich alleine stehen.
Neben Graffiti, die gesprüht, oder seltener gemalt werden finde sich im Straßenraum weitere Formen von Street Art. Häufig anzutreffen sind Pochoirs, Stickers und Paste-Ups.
Bei Pochoirs oder Stencils wird mit einer Schablone und Sprühdose gearbeitet. Besonders häufig werden (ggf. bekannte) Personen dargestellt.
Stickers sind selbst gemalte Aufkleber. Da die Leute hier viel Zeit haben diese zu Hause in aller Ruhe auszuführen, sind sie oft sehr detailliert ausgearbeitet.
Paste-Ups sind größere aufgeklebte Plakate. Wie Stickers sind diese ebenfalls oft sehr detailliert ausgearbeitet.
Wie hier anhand vieler Beispielen gezeigt wurde, sollten Graffiti als junge urbane Kunstform durchaus wertgeschätzt werden. Hochwertige Graffiti und Streetart können urbane Räume beleben und aufwerten. Andererseits sind Anhäufungen von Tags und dilettantische Graffiti an privaten Häuserwänden eine Belastung. Sie führen zu einem Eindruck von Verwahrlosung und ziehen weitere Graffiti nach sich.
Privateigentum vor Graffiti zu schützen scheint sehr schwer zu sein. Stark strukturierte oder begrünte Oberflächen werden eher selten besprüht. Es gibt spezielle Wandfarben, die mitsamt Graffiti entfernt werden können. Entfernen von Graffiti hinterlässt allerdings meist sichtbare Spuren, sogenannte Geisterbilder. Einfaches Übermalen mit Wandfarbe stellt nur wieder einen neue blanke Leinwand für Sprayer bereit.
Die beste Strategie scheint zu sein, Feuer mit Feuer bekämpfen. Wenn hochwertige Graffiti oder Wandmalereien an Wänden angebracht werden, werden diese üblicherweise nicht weiter besprüht. Es gibt einen „Ehrenkodex“ in der Szene, der es verbietet gut gemachte Arbeiten Anderer zu übersprühen. Besonders Strom- und Telekommunikationskästen sieht man oft auf diese Art „geschützt“.
Viele Stadtverwaltungen sind sich der Ambivalenz von Graffiti als Kunstform und Vandalismus bewusst. In vielen Städten stehen Freiflächen für Graffiti bereit, an denen legal gesprüht werden darf. Sehenswert in Essen ist insbesondere die Hall of Fame (Straße Auf der Donau), etwa fünf Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt. Hier kann man Graffitisprayern beim Arbeiten zuschauen. Da die Graffiti bei Tageslicht und ohne Zeitdruck entstehen, sind sie relativ sorgfältig ausgeführt. Sie werden allerdings oft innerhalb kürzester Zeit übermalt.
An der Hall of Fame kann man auch beobachten wie Graffiti schichtweise entstehen, ausgehend von skizzenhaft ausgeführten Umrissen.
Hier wurden einige Grundkonzepte der Graffitikultur erklärt. Hintergrundwissen zu einem Thema erhöht üblicherweise die Wertschätzung dessen. Graffiti befinden sich in einem Spannungsverhältnis zwischen Vandalismus einerseits und junger urbaner Kunst andererseits.
Wichtigste Quellen und weiterführende Informationen:
- Spielfilm: Wild Style, 1982, https://www.youtube.com/watch?v=GaXMfw0IJOo
- Dokumentarfilm: Style Wars, 1983, https://www.youtube.com/watch?v=KpWxHTNYx6k
- Buch: Martha Cooper und Henry Chalfant: Subway Art, 1984, Thames & Hudson, https://issuu.com/cedricb/docs/graffiti_-_subway_art_1984_-_martha_cooper
- Buch: Berhard van Treeck: Das Große Graffiti Lexikon, 2001, Schwarzkopf & Schwarzkopf
- Wikipedia Artikel: Graffiti Jargon, https://de.wikipedia.org/wiki/Graffiti-Jargon
- Wikipedia Artikel: Glossary of Graffiti, https://en.wikipedia.org/wiki/Glossary_of_graffiti
Autor:Johannes Wirges aus Essen |
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