Außergewöhnliches Biopic:
„CRANKO“ – ein Choreograf
Das Ballettwunder von Stuttgart
.Essen / Stuttgart. Vielleicht ist so ein Film wie „Cranko“ erst jetzt möglich geworden: weil der Schauspieler Sam Riley gerade im richtigen Alter ist, weil er als Brite mit seiner deutschen Frau Alexandra Maria Lara in Deutschland lebt und so ein wunderbares Deutsch spricht, dass er tatsächlich den „clash-of-culture“ und das „Geworfen-ins-Dasein“-Lebensgefühl vom einst berühmten Choreografen John Cranko einfangen konnte. Riley bringt einfach auch das Quantum mehr an „Hineinschlüpfen“ in eine bizarre Persönlichkeit mit, das britische Spitzen-Schauspieler weltweit so erfolgreich macht. Eigenen Aussagen nach hatte Riley bis dahin „nicht viel Ahnung“ von Ballett, wie die meisten seiner hellauf begeisterten 1240 Zuschauer der Essener Lichtburg-Premiere. Er hat aber soviel von den Star-Tänzern des Stuttgarter Balletts gelernt, dass er mit ihnen tanzt und probt, als hätte er nie etwas anderes getan.
Sam Riley ist John Cranko
Kurz, der Glücksfall „Sam Riley als John Cranko“ ermöglicht nicht nur, endlich die unglaubliche Geschichte des einstigen und heutigen Ballettwunders in der schwäbischen Provinz-Metropole Stuttgart zu erzählen. Sondern auch das ziemlich einmalige Filmwunder, das dem Regisseur und Drehbuchautor Joachim A. Lang hier auch ästhetisch und inhaltlich, optisch wie musikalisch nach all den Jahren, ein halbes Jahrhundert nach Crankos frühem Tod gelungen ist.
Grandiose Tänzer und Schauspieler
Nach der NRW-Premiere in der Lichtburg berichtet Lang davon, dass man ja eigentlich für Ballett-Filme niemals Tänzer als Schauspieler engagiert. Aber wie könne man denn die Geschichte des berühmten „Ballettwunders von Stuttgart“ angemessen anders zeigen, als die seinerzeitigen Cranko-Stars Marcia Haydée, Richard Cragun oder Birgit Keil von ihren heutigen Nachfolgern am Staatstheater Stuttgart tanzen und spielen zu lassen? Und das machen die jungen Nachfolger einfach großartig. Auch nach dem Urteil ihrer wenigen noch lebenden Vorbilder. Manche Zuschauer weinten ergriffen von soviel tänzerischem Ausdruck, eine große Rolle spielt auch die herausragende Brillanz der Lichtburg-Riesenleinwand samt Ton.
Das Wunder und seine Folgen
Zum Wunder von Stuttgart gehört auch, dass mit dem plötzlichen Tod des „schwulen Südafrikaners“ John Cranko 1973 nicht alles zu Ende war. Im Gegenteil: „Seine“ Tänzer John Neumeier, William Forsyth oder Egon Madsen haben eigene Tanz-Compagnien aufgebaut! Und viele der mitwirkenden, einfach hinreißenden Tänzer haben ihre Ausbildung an der Stuttgarter John-Cranko-Schule absolviert und tragen den Cranko-Stil weiter in alle Welt.
Wie große Kunst entsteht
Theater so darzustellen, wie es eigentlich nur live im Theater physisch erlebbar ist, gehört zum Aller-Schwierigsten, was man sich so als Regisseur vornehmen kann. Doch Lang und Kameramann Philipp Sichler gelingt genau das. Die Kamera fliegt direkt ins Auge von John Cranko - und das „Fenster zur Seele“ wird zur ikonischen Ballett-Szene. Die Tanzszenen wirken mit diesem Hintergrund noch authentischer als ihre tänzerische Weltspitze ohnehin. Und man bekommt tatsächlich auch als Laie zumindest eine Ahnung davon, wie Cranko gearbeitet hat. Die Frage aller Fragen, wie denn plötzlich große Kunst entstehen kann, die berühren und das Leben bereichern kann, wird hier tatsächlich auch visuell (und akustisch!) „e bissele“ beantwortet.
Theater als Schutzraum
Theater, insbesonders die Oper und das Ballett waren immer schon Schutzräume, besonders für Menschen, die gleichgeschlechtlich lieben. Zu Crankos Zeit eigentlich nur im Verborgenen möglich, und: das ab 1958 ! Und ausgerechnet in Stuttgart, wo schon Hetero-Theaterleute „Scheurepurzler“ heissen – genau: Scheunen-Hüpfer, „hängt die Wäsche weg“.! Für die anderen gibt es dort gar kein Wort.
Als Cranko 1959 nach Stuttgart eingeladen wird, hatte er in London faktisch Arbeitsverbot. Homosexualität war eine Straftat und er war gerade angezeigt worden, Prinzessin Margret war voller Abscheu fassungslos. Das Stuttgarter Gast-Engagement durch Generalintendant Walter Erich Schäfer (supporting act: Hanns Zischler) bot ihm die Möglichkeit, all das hinter sich zu lassen. Für das Württembergische Staatstheater wiederum war es die Chance, „günstig“ an einen als tüchtig und anspruchsvoll erkannten Choreografen zu kommen. Schäfer bietet ihm nach der erfolgreichen ersten Gast-Choreografie 58/59 direkt die Leitung des Stuttgarter Balletts an. Im bis heute größten Dreispartenhaus Deutschlands, ja der Welt. Der Rest ist Geschichte und Stuttgarts ganzer Stolz.
Komplexe Persönlichkeit
Sam Riley verkörpert die Ruhelosigkeit, die Verletztlichkeit und die schöpferische Kraft Crankos auch nach Aussagen der überlebenden Tänzerinnen und Tänzer und Mitarbeiter auf beeindruckende Weise. Seine Männer-Liebschaften, seine Alkohol- und Tablettensucht, seine Sehnsucht nach Lebensglück. Sein manisches Proben bis zur Perfektion. Sein komplettes Unverständnis für feste Probenzeiten oder: „Pausen?“. Aber auch sein „Vaterstolz“ darüber, dass seine „Leftovers“ aus der grad noch Stuttgarter Provinz nun an die MET nach New York eingeladen werden und von der New Yorker Welt-Kritik als „Ballettwunder von Stuttgart“ gefeiert werden. Seine Entdeckung Marcia Haydée, (die Cranko gegen Schäfer nur mit eigener Rücktritts-Drohung als Primaballerina verpflichten durfte) wurde an der MET vom wichtigsten Kritiker für ihren Tanzpart in Crankos „Onegin“ zur „Prima Ballerina asoluta“ geadelt: „Was die Callas in der Oper ist, ist Marcia Haydée im Ballett“. Geht mehr?
Der Kreis schließt sich
Crankos Sehnsucht nach Glück, seine tiefen Depressionen, die er nie ganz durch seine unglaublich erfolgreiche Arbeit (u.a. „Romeo und Julia“ oder „Schwanensee“ sind noch heute weltberühmte Klassiker im Stuttgarter Repertoire) in Schach halten konnte, sein zu früher Tod auf der Höhe seines Ruhms auf dem Rückflug von einem späteren New York-Gastspiel im Kreise seiner „Kinder“, seiner Tanzfamilie - all das mündet bei Lang in einer Hommage an Cranko: Hand in Hand legen die große Marcia Haydée und ihre grandiose Verkörperung Elisa Badenes rote Rosen auf sein Grab. Gefolgt von allen Mitwirkenden, darunter dem einzigartigen Friedemann Vogel oder dem wunderbaren Jason Reilly. Ein letzter, aber bleibender Vorhang für den großen John Cranko - der aus Stuttgart gegen alle Widerstände - in den Bühnen-Ausstattungen des kongenialen Jürgen Rose, eine bis heute international führende Ballett-Stadt gemacht hat. Ein selten gelungener Film über Theaterkunst als eigenes Kunstwerk, der auch bisherige Ballett-„Muffel“ begeistert, wie vor 50 Jahren Cranko live auf der Bühne. Chapeau! (cd)
Autor:Caro Dai aus Essen-Werden |
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