Neben der Spur - Wenn dem Psychotherapeuten etwas zustößt (5)

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~ * ~ * ~ * ~ * ~ Die Nachricht ~ * ~ * ~ * ~ * ~

Die beiden Stunden dehnten sich zu einer Ewigkeit, in der sich Rieke nicht mal in den Garten wagte, um auch ja das Telefon zu hören. Die Zeit des Wartens füllte sich mit kleinen Blitzen der Erinnerung, die gerne wärmen wollten und nicht mehr wärmen konnten, mit bedrückend dunkler Trauer und mit Schuldgefühlen. Sie bewirkten, dass die Angst sich immer tiefer in den Körper fraß.

Wenn das Gespräch, das ihr bevorstand, nun ergab, dass Charlotte Leidenicht wirklich nicht mehr lebte?

Dann war das für Rieke mehr, als „nur“ ein schmerzhafter Todesfall. Es wäre eine Katastrophe, weil es den ganzen Therapieprozess zerfetzte und das bisher von ihr erkämpfte ebenso zunichte machen würde, wie das Ziel, das Rieke anstrebte und dessen Erreichen letztlich auch Frau Leidenicht verdiente.
Riekes Ziel lag darin, die Abwehr gegen Psychotherapie abzulegen und Psychotherapeuten wieder wertschätzend und freundlich gegenübertreten zu können. Dazu gehörten Worte der Begrüßung, ein freundliches Lächeln und ein Händedruck, wenn sie zur Sitzung kam, das Aushalten und Halten des Blickkontakts während der Gespräche und das Freisetzen emotionaler Wärme und bereitwilliger Zugänglichkeit, die von der Behandelnden auch wahrgenommen werden konnte. Und dazu gehörten auch ein freundliches Lächeln, ein Händedruck und ein „Auf Wiedersehen“, wenn sie wieder ging.

Von alledem aber war Rieke noch weit entfernt gewesen, als Frau Leidenicht so plötzlich von der Therapiefläche verschwand. Und jetzt kämpfte sie mit schweren Schuldgefühlen, weil sie ihr so lange kühl und distanziert begegnet war, weil sie ihr fast nie die Hand gegeben hatte und nicht in der Lage war, ein „Guten Morgen“ auszusprechen, wenn sie kam; und weil sie die Therapeutin während der vielen fünfzigminütigen Gespräche nur ganz selten einmal angesehen hatte.

Wie oft war sie in dem Bestreben nach der Sitzung aus dem Raum gegangen, möglichst viel Kühle zu erzeugen und distanziert zu bleiben, um Frau Leidenicht mit Macht den Platz zuzuweisen, den sie einzunehmen hatte: den Platz einer Behandelnden, die eine – wenn auch individuelle - Fließbandarbeit am Patienten leistete und sonst in dessen Leben nichts zu suchen hatte. Stunde um Stunde hatte die Psychotherapeutin zu spüren bekommen, dass eine andere Therapeutin Mist gemacht hatte, dass damals zu viel Nähe erzeugt worden war und im Endeffekt ein Missbrauch zwischenmenschlichen Erlebens stattgefunden hatte. Sie war Prellbock gewesen, hatte Riekes Kummer und Wut, die Verzweiflung, die Abwehr und die Übertragung ausgehalten.

Auch wenn Frau Leidenicht abwehrend die Hände gehoben und beteuert hatte, dass es ihr nichts ausmache und sie gut mit dieser Abwehr leben könne, was Rieke ihr trotz der vorauszusetzenden Professionalität nicht wirklich glauben mochte, so nagte jetzt in ihr die Frage, wie viel Unrecht sie dieser Frau angetan hatte; und wie sie eigentlich mit einem Menschen umging, der rein gar nichts dazu konnte, dass sie in einer Ausbildungseinrichtung so schwer geschädigt worden war und der dennoch all das abbekam, was Rieke an Wut und Ärger loszuwerden hatte.

Frau Leidenicht war aus dem Therapieauftrag heraus Riekes Weg zum Ziel gewesen und sie war ein Teil des Ziels. Wenn sie nun nicht mehr lebte, gab es das fest mit ihr verknüpfte Ziel nicht mehr. Ihr hatte Rieke wieder einen guten Morgen wünschen wollen, wenn sie zur Sitzung kam. Ihr hatte sie zur Begrüßung und zum Abschied wieder ein wohlwollendes Lächeln schenken und die Hand geben wollen.
Ihr hatte sie mit offener Freundlichkeit wieder in die Augen sehen wollen und ihr hatte sie mit fortschreitender Zeit dankbar ihre Fortschritte zeigen wollen, wenn sie sich einstellten. Frau Leidenicht sollte die Früchte ihrer Arbeit ernten können, die in Riekes Fall Neuland für sie war, da sie noch nie zuvor einen durch Psychotherapie traumatisierten Menschen in Behandlung gehabt hatte.

Auf dem Weg zum Ziel hatten beide mittlerweile Zuversicht entwickelt und deshalb war das hier auch weitaus mehr als „nur“ ein plötzlicher Kontakt- und Therapie-Abbruch. Hier war mitten auf dem gemeinschaftlich zurückgelegten Weg unvermittelt etwas abgerissen worden, das den Bestimmungsort noch nicht erreicht hatte. Und das tat bitter weh.

Sollte die Therapeutin nicht mehr am Leben sein, gab es für Rieke nie mehr die Gelegenheit, das aus der Schädigung heraus versäumte nachzuholen. Dann gab es nie mehr die Gelegenheit für ein Lächeln, für einen herzlich gemeinten Händedruck und für die noch ausstehenden Worte des Dankes für die so strukturiert und gut durchgeführte Verhaltenstherapie. Und es gab dann auch keine Möglichkeit mehr, ihr die Fotos von Riekes Holzarbeiten zu zeigen, um die die Therapeutin vor langem schon gebeten hatte. Sie hatte eine Vorstellung von den handwerklichen Fähigkeiten der Patientin bekommen wollen, die durch das Trauma verschüttet worden waren, um sie zu fördern und zu stützen, damit sie wieder tragen konnten.

Doch Rieke hatte nicht gewagt, sie mitzubringen, weil sie aus der alten Therapie gefestigt in Erinnerung behalten hatte, dass das Vorzeigen privater Dinge als Beleg für eine Persönlichkeitsstörung herangezogen wurde, da der Patient nur darauf aus sei, die Anerkennung seines Therapeuten zu erhalten. Rieke fehlte noch immer das Vertrauen, dass Frau Leidenicht im Rahmen ihrer Therapie anders handeln und sie nicht zu Diagnosezwecken hinters Licht führen würde.

Rieke spürte jetzt, wie verzweifelt sie in all den Wochen immer wieder versucht hatte, die Kontrolle zu behalten, die Ehrlichkeit der jetzigen Psychotherapeutin abzuklopfen und das Menschliche zurückzudrängen; und das alles aus lauter Angst und Verzweiflung, dass die Verbindung wieder so viel zu eng werden könnte, wie damals.
Der Gedanke, dass es jetzt zu spät sein konnte, Freundlichkeit, Wohlwollen und Dankbarkeit zu zeigen, Versäumtes nachzuholen und Charlotte Leidenicht gegenüber endlich ausreichend Vertrauen aufzubringen, diese aber nicht mehr an dem teilhaben konnte, was sie als Mensch und Psychotherapeut verdiente, wie jeder andere auch, war unfassbar quälend.

Frau Leidenicht hatte es verdient und es gab keinen Abschied.

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Bis zur Telefonsprechzeit der Gemeinschaftspraxis rief niemand an, so dass Rieke selber etliche Versuche starten musste. Aber erst in der Mitte dieser halben Stunde hatte die Patientin Glück, dass die Leitung frei war und der Ruf endlich durchging. Die Psychotherapeutin, die sie vor fünf Tagen mit in den vierten Stock genommen hatte, war am Apparat. Sie war auf Riekes Anruf vorbereitet, da sie die Nachricht abgehört hatte.

„Ach, die Frau Bosmans“, begann sie in typisch unerschütterlicher Psychologenart sanft gedehnt zu sprechen, um dann gleich intensiven Fragen vorbeugend mit ruhiger und fast gleichgültiger Stimme anzufügen, dass Frau Leidenicht noch weiterhin krank sei. „Sie meldet sich, wenn es ihr wieder besser geht.“

Rieke hatte Schwierigkeiten, die Bedeutung der gehörten Worte zu erfassen und in ihrem Kopf zu hinterlegen, der jetzt voller Nebelbänke war.
…. N §o#~cxh ... wex i#te$§rh=in ... k&r %an*k …. Noch weiterhin krank ….
… We§xn~n ... e%s ... i!?h=$r ... wi&e)(§der ... b"§exs%s/er ... g$ex%h&t …
Wenn es ihr wieder besser geht …
Was hieß denn das? Wie schlimm sah es denn aus? Was war mit Lotti Leidenicht passiert?

Rieke, die am liebsten auf der Stelle durch den Hörer kriechen würde, um die Kollegin zu packen und zu schütteln und an ihrer Mimik festzustellen, ob auch stimmte, was sie sagte, fühlte sich um ihre ungezählten Fragestellungen beschnitten.

„Aber …“, stammelte sie unbeholfen, um den Kontakt nicht vorschnell abbrechen zu lassen und mit der nagenden Verzweiflung erneut allein zu sein, „können Sie denn sagen, wie lange sie in etwa krank sein wird?“
Nein, das könne sie nicht abschätzen, antwortete die Kollegin und Rieke blieb nichts anderes übrig, als ihr zu glauben, obwohl sie ihr nicht glaubte.

„Hatte sie denn …,“ drang Rieke mit trockenem Mund noch einmal fahrig in sie ein, „es war aber kein Unfall, oder?“ Angesichts der greifbar dichten Mauer rund um die Kollegin und angesichts ihrer Besorgnis um den Menschen, mit dem sie jetzt seit Wochen zuversichtlich arbeitete, fühlte sich die kranke und zutiefst verletzte Frau entsetzlich hilflos und entmündigt.

„N#e%i~n, ... k%§exi*/n ... U%&nf)a&ll“ ... „Nein, kein Unfall“, entgegnete die Stimme und es war unverkennbar, dass sie Rieke, die nur eine von 24 weiteren Patienten der Psychotherapeutin war, keine ausführlichere Auskunft geben würde.
„Dann richten Sie Frau Leidenicht bitte eine gute Besserung und alles Gute aus, sollten Sie sie sprechen“, bat Rieke und fühlte sich in ihrer Not unglaublich klein und unbeholfen, weil sie so gar nichts tun konnte und sich mit spitzen Fingern weggeschoben fühlte; ... mit impliziter Autorität ... auf Abstand gehalten…

Die Kollegin versprach es und wünschte ihr noch eine gute Zeit, während Rieke schmerzhaft klar wurde, dass dieser kleine dünne Draht zu ihrer Therapeutin nicht festgehalten werden konnte; dass sie loslassen musste, was trotz dieses Gespräches, das ihr vermittelt hatte, dass Frau Leidenicht zumindest lebte, mehr als brüchig schien.

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© Sabine Schemmann, Freie Erzählungen, Dezember 2013

Anm.: Die Namen der handelnden Personen sind frei gewählt. Auch die verwendeten Fotografien stellen keinen Bezug zwischen der dargestellten Handlung und realen Orten her.

Folge 1, der Anfang der Erzählung beginnt hier: http://www.lokalkompass.de/bochum/leute/neben-der-...

Folge 4, der Vorlauf zur aktuellen Folge 5, ist hier zu finden: http://www.lokalkompass.de/bochum/leute/neben-der-spur-wenn-dem-psychotherapeuten-etwas-zustoesst-4-d374583.html

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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