Jens Spahn im Exklusiv-Interview
"Familien sind größter Pflegedienst der Nation"
„Wenn von einer Million Pflegekräften 100.000 nur drei, vier Stunden mehr pro Woche arbeiten würden, wäre schon viel gewonnen.“ Mit diesen Worten sorgte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im September für Aufsehen und musste deutliche Kritik für seine Worte einstecken. Wie sieht er das heute? Antworten darauf gibt es im großen Lokalkompass-Exklusivinterview.
Lokalkompass (Christian Schaffeld): Herr Spahn, würden Sie diese Aussage heute so noch einmal tätigen?
Jens Spahn: Dieses Zitat ist ein gutes Beispiel dafür, dass zu viele nur noch die oft zugespitzten Überschriften lesen. Die mache aber nicht ich. Gesagt habe ich etwas anderes. Nämlich dass wir die Arbeitsbedingungen so verbessern müssen, dass sich wieder mehr Pflegekräfte gerne für mehr Stunden oder auch eine Vollzeitstelle entscheiden. Viele haben in den letzten Jahren ihre Arbeitszeit reduziert, weil sie unter den oft stressigen Bedingungen auf den Stationen und in den Heimen nicht mehr Vollzeit arbeiten wollen und können. Wir ziehen alle Register, diese Bedingungen zu verbessern. Ich will, dass mehr Pflegekräfte ihren Job wieder gern machen. Und dass sich noch mehr Menschen für diesen Beruf entscheiden.
Sie wollen 13.000 neue Beschäftigte einstellen. Was müssen Sie den Menschen bieten, damit diese kommen? Wie wollen Sie den Berufsstand attraktiver machen?
Viele interessieren sich für diesen Beruf, weil sie mit und für Menschen arbeiten wollen. Wenn sie dann keine Zeit für ihre Patienten oder Bewohner haben, ist das frustrierend. Wir müssen dafür sorgen, dass sie wieder mehr Zeit mit den Patienten anstatt mit Bürokratie und Organisation verbringen. Der erste Schritt ist mit dem Sofortprogramm Pflege getan. Wir finanzieren nicht nur 13.000 zusätzliche Stellen in der Altenpflege. Auch jede zusätzliche Pflegekraft in den Krankenhäusern wird voll finanziert. Jetzt können die Kliniken nicht mehr sagen, dass kein Geld für mehr Personal da ist. Den zweiten Schritt kann ich nicht allein gehen. Darum arbeiten Familienministerin Franziska Giffey, Arbeitsminister Hubertus Heil und ich in der „Konzertierten Aktion Pflege“ mit über 50 Verbänden zusammen. Wir haben bereits eine große Ausbildungsoffensive beschlossen und wir wollen mehr Pflegekräfte aus dem Ausland gewinnen. Ich setze mich in den Gesprächen auch für eine flächendeckend bessere Bezahlung in der Altenpflege ein. Bis zum Sommer legt die Konzertierte Aktion ein fertiges Konzept vor. Wir drucken nicht nur Broschüren, wir liefern.
Was muss sich Ihrer Ansicht nach in der Pflege zuerst verändern?
Wir müssen mehr Menschen für den Beruf begeistern, damit sich die Situation in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen spürbar verbessert. Dabei spielt auch das Image eine wichtige Rolle. Viele Pflegekräfte sagen mir, dass das im Grunde ein wundervoller Beruf sei. Über diese positiven Seiten müssen wir mehr reden, auch die Pflegekräfte selbst, denn sie sind die besten Multiplikatoren. Ich will, dass Eltern stolz sind, wenn ihr Kind eine Ausbildung in der Pflege machen möchte. Dass sie sagen: „Gute Entscheidung“ statt sich zu fragen, wie sie dem Sohn oder der Tochter das bloß wieder ausreden. Die Pflegekräfte sollen spüren, dass ihr Beruf wertgeschätzt wird.
Die Bundesrepublik hat einen Überschuss von 58 Milliarden Euro erwirtschaftet. Das ist der höchste Wert seit der Wiedervereinigung. Wie viel Geld davon geht in die Ausbildungsoffensive Pflege?
Die Überschüsse hat der Gesamtstaat erwirtschaftet. Sie sind vor allem bei Ländern und Kommunen angefallen. Was die Pflege angeht, haben wir ja eben erst den Beitragssatz der Pflegeversicherung angehoben – zum Teil, um die Leistungsverbesserungen der letzten Legislaturperiode zu finanzieren, zum Teil, um Spielraum für die jetzt geplanten Maßnahmen zu schaffen. Damit haben wir 7,5 Milliarden Euro mehr pro Jahr zur Verfügung für konkrete Verbesserungen. Man kann also wirklich nicht sagen, dass die Pflege zu kurz kommt. Klar ist aber auch: Wir werden noch mehr tun müssen, auch um den Pflegeberuf noch attraktiver zu machen. Auch das wird Geld kosten. Darum brauchen wir eine gesamtgesellschaftliche Debatte darüber, wie wir die Pflege künftig finanzieren. Weder die Pflegebedürftigen noch die Pflegeversicherung werden das jeweils allein stemmen können.
Pflegeheimbewohner leisten über ihre Heimbeiträge schon jetzt Subventionen für die Ausbildung. Wie soll die Ausbildung künftig finanziert werden?
Pflegeheimbewohner subventionieren niemanden. Sie zahlen einen Pflegesatz, der die Kosten für ihre Pflege deckt. Daraus wiederum zahlen die Heime insbesondere die Löhne der Pflegekräfte. Dazu können auch Ausbildungskosten, vor allem die Ausbildungsvergütungen, gehören. Worüber man diskutieren kann, ist die Höhe des Eigenanteils, den die Pflegebedürftigen selbst zur Pflege beisteuern. Die Leistungsbeträge der Pflegeversicherung werden aber schon heute regelmäßig überprüft und gegebenenfalls angepasst. Und die Mehrkosten, die mit der Einführung der neuen, modernisierten Pflegeausbildung ab dem nächsten Jahr entstehen, trägt die Pflegeversicherung, die tragen nicht die Pflegebedürftigen.
Wohin fließen die Gelder aus der Pflegeversicherung?
Mit den Beiträgen der Versicherten werden zum einen Leistungen für die Pflege Zuhause finanziert. Das sogenannte Pflegegeld, wenn jemand von einem Angehörigen gepflegt wird. Oder ein ambulanter Pflegedienst. Außerdem gibt es viele ergänzende Leistungen, die auch die Angehörigen unterstützen sollen, zum Beispiel die Tages-, die Kurzzeit- und die Verhinderungspflege. Unter bestimmten Voraussetzungen zahlt die Pflegeversicherung auch Rentenbeiträge für einen pflegenden Angehörigen. Das Volumen dieser sozialen Absicherung ist durch unsere Reformen in den letzten zwei Jahren von einer auf zwei Milliarden Euro gestiegen. Zum anderen beteiligt sich die Pflegeversicherung in erheblichem Umfang an den Kosten für eine stationäre Pflege, also die Unterbringung in einem Pflegeheim.
All diese Leistungen haben wir in der letzten Legislaturperiode deutlich ausgeweitet: 2013 hat die Pflegeversicherung für Pflegeleistungen noch 23 Milliarden Euro ausgegeben, 2018 waren es bereits 38 Milliarden Euro. Mit diesem Geld helfen wir den Betroffenen und ihren Angehörigen.
Vor einigen Jahren hat die Bundesregierung zudem einen Pflegevorsorgefonds eingerichtet, in den wir jedes Jahr 0,1 Prozentpunkte der Pflegeversicherungsbeiträge einzahlen. 2018 waren das 1,4 Milliarden Euro. Diese Vorsorge ist wichtig, denn die Zahl der Pflegebedürftigen nimmt absehbar zu, während diejenige der Beitragszahler sinkt. Meine Oma hat immer gesagt: „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not.“ Daran halten wir uns.
Die Kosten für Versorgung und Unterbringung in den Pflegeheimen sind nicht einheitlich festgelegt. Gibt es Gründe das zu ändern?
Die Kosten für die Pflege und für Unterkunft und Verpflegung werden zwischen dem einzelnen Pflegeheim und den Pflegekassen vereinbart. Ein Hauptfaktor für diese Kosten sind die Personalschlüssel, die auf Landesebene vereinbart werden. Dass das alles nicht bundeseinheitlich geschieht, dafür gibt es gute Gründe. Die Lebenshaltungskosten sind von Region zu Region unterschiedlich, genauso wie die Löhne. Auch die Bewohnerstruktur variiert: Manche Heime haben sich auf eine gerontopsychiatrische Versorgung spezialisiert. Solche Einrichtungen brauchen dann anderes, womöglich auch mehr Personal. Es ist gut, dass solche Unterschiede in unserem System berücksichtigt werden. Dennoch fragen manche zu Recht, warum sich die Personalschlüssel der Heime noch so stark zwischen den Ländern unterscheiden. Darum haben wir die Selbstverwaltung in der Pflege beauftragt, bis zum Jahr 2020 ein einheitliches Personalbemessungsverfahren zu entwickeln. Das muss weiter Raum für Unterschiede zwischen den Einrichtungen lassen, soll aber dazu beitragen, dass sich die Personalschlüssel nicht mehr so stark unterscheiden.
Die Beitragssteigerung um 0,5 Prozentpunkte wird laut des Bundesgesundheitsministeriums nur bis 2022 reichen. Was passiert danach?
Unser Leben verlängert sich statistisch gesehen jeden Tag um knapp sechs Stunden. Das ist erstmal eine gute Nachricht. Aber wenn die Gesellschaft altert, sind mehr Menschen auf Hilfe angewiesen. Denn nicht jeder bleibt bis zum Schluss gesund. Darum setze ich mich dafür ein, dass wir schon jetzt eine grundsätzliche Debatte darüber beginnen, wie wir die Pflege künftig finanzieren wollen. Was können die Familien leisten und wo brauchen sie Hilfe? Diese Frage müssen wir als Gesellschaft beantworten. Das kann nicht der Bundesgesundheitsminister allein entscheiden.
In vielen europäischen Ländern wird die Pflege anders geregelt als in Deutschland. Was können wir von diesen Ländern lernen?
Es ist richtig: Die europäischen Länder stehen alle vor vergleichbaren Herausforderungen. Die Antworten darauf fallen in Europa aber ganz unterschiedlich aus. Die skandinavischen Länder zum Beispiel setzen stark auf die Kommunen, wenn es um Pflege geht. In Süd- und Osteuropa wiederum kommt der Familie eine noch viel größere Rolle zu als hierzulande, staatliche Hilfen sind dort eher knapp. Wir wiederum haben uns für eine Sozialversicherungslösung entschieden, die vor allem darauf zielt, die Angehörigenpflege zu unterstützen. Solche Unterschiede haben viel mit politischen und gesellschaftlichen Traditionen zu tun. Ich glaube nicht, dass man einfach ganze Systeme übertragen kann. Aber einzelne Elemente, die woanders gut funktionieren, schauen wir uns natürlich an. Das gilt zum Beispiel für die Überwindung von Schnittstellen zwischen den Versorgungssektoren, vor allem zwischen Krankenhäusern, Reha-Einrichtungen und Pflege. Das klappt in Skandinavien noch besser als in Deutschland. Aber wir arbeiten dran.
Zum Schluss dürfen Sie sich selbst eine Frage ausdenken. Welche wäre das? Und wie würden Sie diese beantworten?
Momentan stehen die Pflegekräfte sehr im Fokus. Wir haben aber in der Vergangenheit auch viel für die pflegenden Angehörigen getan. Die Frage ist: Reicht das? Ich habe großen Respekt vor dem, was diese Menschen jeden Tag leisten. Darum ist es richtig, dass wir die Leistungen massiv ausgebaut haben. Es gibt Pflegegeld, es gibt verschiedene Entlastungsangebote wie Verhinderungspflege und Tagespflege und wir haben den Zugang zur stationären Reha erleichtert. Pflegebedürftige brauchen aber auch jemanden, der ihnen mal etwas vorliest oder mit ihnen spazieren geht. Damit die Familien leichter solche Angebote finden, lassen wir ab Mai auch reine Betreuungsdienste als Leistungserbringer zu. Der größte Pflegedienst der Nation sind die Familien. Mein Ziel ist es, ihnen zu helfen. Es läuft nicht alles schlecht in der Pflege.
Unseren Artikel von Spahns' Besuch in Oberhausen lesen Sie hier.
Alle Artikel unserer verlagsweiten Pflegeserie finden Sie hier.
Autor:Christian Schaffeld aus Oberhausen |
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