Ruhrtriennale 2015 # Essen-Zollverein: Die stille Kraft

Die stille Kraft, Schauspiel

Im Salzlager der Zeche Zollverein hatte die Neuinszenierung des Romans "Die stille Kraft" des niederländischen Romanciers Louis Couperus unter der Regie von Ivo van Hove am 18.9.15 Premiere.

In dem - aufgrund der Migrationswelle wieder ganz aktuellen Stoff - geht es um das Zusammentreffen von zwei Kulturkreisen und der hierbei freiwerdenden sichtbaren und unsichtbaren Kräfte.

Der Autor Louis Couperus wuchs 1863 im Dunstkreis der holländischen Kolonialverwalter in Niederländisch-Indien, heute Java, auf. In seinen Werken schuf er eine neue Welt, mal naturalistisch, mal historisch oder symbolistisch. "Die stille Kraft" entstand 1900 innerhalb weniger Monate während eines Besuches bei seiner Schwester und ihrem Mann, die Residenten in Ost-Java waren.

Der rastlose, dandyhafte Außenseiter Couperus erzählt als gesellschaftlicher Visionär die beklemmende Welt des Untergangs des niederländischen Statthalters, seiner Frauen und Kinder ebenso wie das Scheitern der einheimischen Prinzenfamilie. Was bleibt, sind die Kräfte der Mysterien, die "Seele" des Landes.

Der mehrfach ausgezeichnete Regisseur Ivo van Hove ist seit 2001 Generaldirektor der Toneelgroep Amsterdam. Sein junges und ambitioniertes Ensemble spielt nicht nur, sondern verkörpert die Figuren, welche für Macht und Herrschaft aber auch für scheinbare Unterwerfung, Dekadenz oder Lebensangst stehen.
Für die Ausstattung des Bühnenraums genügen einfache Mittel, um die Spannungen zwischen Abendland und Morgenland zu umschreiben. Häufig wiederkehrende Wassergüsse von tröpfelnd bis Starkregen von der Bühnendecke geben kombiniert mit Lichteffekten ein auch für die Zuschauer erfahrbares Gefühl von Monsunregen - fruchtbar für das grüne Land aber nervig für die hitzegeplagten Niederländer.
Der einfache Holzdielen-Fußboden steht für das schlichte, natürliche Leben in Fernost, in dem alle, ob Prinz oder Bauer, barfuß laufen. Tafelsilber und Tischdeckchen auf kleinen Tischen charakterisieren das importierte Lebensgefühl der auf ihre westliche Zivilisation stolzen Niederländer. Die Kolonialherren tragen Anzug bzw. deren Damen Seidenkleider, die Einheimischen luftige Naturfasern. Ein gelegentlich zart angespielter Konzertflügel reicht völlig aus, um die Illusion der abendländischen Zivilisation zu vermitteln, wie Klangkörper aus Holz und Metall den fernöstlichen Gegenpart bilden und abrupt lärmend in die Handlung einbrechen. Das Geschehen wird durch Videoeinspielungen an drei Seiten mal regional ans Meer oder in den Laubwald, mal ins ferne historische Den Haag eingebettet und von einer Sprecherstimme kommentierend verdichtet.

Die niederländischen Kolonialherren hatten Java etwa 50 Jahre lang unter Kontrolle. Den Gouverneuren, Geschäftsleuten, Wissenschaftlern und Verwaltungsmitarbeitern sowie ihren mit eingereisten Ehefrauen und Kindern muss das Leben zunächst paradiesisch erschienen sein.
Das Stück zeigt die anfängliche Begeisterung für Land und Leute, Natur und Mentalität. Als diese weicht, stören bereits Äußerlichkeiten: Monsunregen, Hitze, Langeweile, Missverständnisse. Die Kakerlaken zernagen den Konzertflügel, die Regenfälle zerstören die Seidenkleider. Aber auch die Einheimischen leiden - an Armut, mangelndem Einfluss, Bedeutungslosigkeit, Bevormundung.
Die Amtsträger flüchten sich in Arbeit. Getrieben von Sendungsbewusstsein und Karrierestreben verstehen sie sich als Zwangsbeglücker. Persönlich werden sie hart, unbeugsam und blind vor Prinzipientreue.
Die Ehefrauen und heranwachsenden Kinder quält Langeweile und Dekadenz, Heimweh oder Fernweh, Sehnsucht nach Kultur und Lebensangst. Glücksspiel, Drogen und Sex betäuben nur kurz, die Sorge, nicht mehr abendländisch genug zu sein bleibt.
Die zu Handlangern degradierte einheimische Herrscherfamilie zerfällt ebenso. Intellektuelle schließen sich zusammen und planen, aber die durch Untätigkeit und Bedeutungslosigkeit Gedemütigten verprassen Verwaltungsgelder im Glücksspiel und schädigen sich und ihr Volk - oder das übergestülpte Kolonialsystem.
Beide Kulturkreise streben das Blutreine an und stehen sich unversöhnlich gegenüber. Eine Mischung könnte aus beiden Kulturen das Beste zusammenführen - dies verhindern aber die in ihren Ideologien verkrusteten jeweiligen Herrscher.
Die aus Sexeskapaden und Wollust entstandenen Kinder - weder reine Niederländer noch reine Eingeborene - passen in keines der auf Blut-Reinheit der jeweiligen Kultur bedachten Systeme und sind die Verlierer per se.

Als die Macht der Kolonialherren unerschütterlich schien, begann sich unter den einheimischen Intellektuellen auf Java die Idee eines Nationalstaates zu entwickeln. Forderungen nach Mitspracherechten in Regierungsfragen und Ausbildung auch für Frauen führten zu einer stärkeren Berücksichtigung einheimischer Interessen durch die Kolonialherren; volle Unabhängigkeit wurde aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht.

Im Stück bleiben die Figuren nur noch aus Pflichtgefühl in ihren Positionen. Der Statthalter muss verwalten, Zugeständnisse sind in seiner Ideologie nicht vorgesehen. Die Exfrau will wieder in ihr Heimatland zurückkehren, kann aber nicht weg, solange sie noch gebraucht wird. Die Fürstin des Landes bietet sich als Sklavin an, um ihren Sohn zu schützen. Die Kinder aus gemischt-kulturellen Beziehungen "heilen" ihr Blut, indem sie sich durch Ehe für eine der kulturellen Identitäten entscheiden. Die Ehefrau will nicht aus Pflichtgefühl ausharren und geht nach Paris - fortan ist sie gesellschaftlich geächtet.

Die Europäer konnten sich in den Kolonien nur als Führungselite behaupten, solange sie ihre Überlegenheit als etwas Naturgegebenes erscheinen ließen. Dazu gehörte auch, in "zivilisierten" Kleidern und Manieren eine Klassenzugehörigkeit zu zelebrieren. Sobald die Kolonialherren den Glauben an ihr natürliches Herrschaftsrecht verloren, begann das erdachte System zu faulen und auf fremdem, der abendländischen Kultur feindlichem Boden zu verfallen.

Als letztes bricht im Stück der vor Arbeitseifer verhärmte Regent zusammen. Er ist beruflich, familiär, ideologisch und persönlich gescheitert. Mochte sein Arbeiten auch noch so gutgemeint oder idealistisch sein, es konnte nicht funktionieren, solange es nicht auf Augenhöhe stattfand.
Aus Liebe zum Land versucht der schließlich zurückgetretene Regent nun, sich mit dem fremden Land zu arrangieren, da er ansonsten völlig heimatlos wäre.

Der Zusammenprall zweier unversöhnlicher Kulturkreise - die javanische Nacht, die dunkle Seite der ignorierten Gefühle, hat als stille Kraft Rache genommen.

Eine spannende und äußerst aktuelle Inszenierung.
Weitere Termine sind am 19., 20., 23. und 24. September 2015.

Autor:

Dorothea Weissbach aus Oberhausen

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