Humor
Philosophische Gedanken einer Wildgans
Philosophische Gedanken einer Wildgans
Unter uns lag die Ruhr, das ersehnte Ziel unserer Flugreise und reflektierte die Sonne wie ein silbernes Band, umgeben von den saftig grünen Wiesen der Ebene.
Nach reiflichen Überlegungen hatten wir uns zu diesem Gewässer entschlossen, auch, weil die Ältesten unserer Gruppe schon oft dort gewesen waren und sich erinnernd die Reise dorthin im wahrsten Sinne des Wortes im Flug absolvieren konnten. Worüber man in der Jugend viel nachdenken musste, ersetzte im Alter die Gewohnheit, die gelebte Praxis, auch wenn anderes vielleicht nicht mehr vorhanden war.
Natürlich war in der Heimat das Pro und Kontra öffentlich heiß diskutiert worden und es hatten sich mehrere Fraktionen gebildet, da ja üblicherweise niemand sofort mit dem anderen einverstanden ist, ohne nicht zuvor seine Meinung, und damit seine Bedeutung kund zu tun. Da waren die Konservativen, die sich darauf einigten, es so zu machen wie sie es immer gemacht hatten, wohl aus Gewöhnung und entspannender Trägheit. Und natürlich war ihnen ein gewisses Sicherheitsbedürfnis eigen. Dagegen wandten sich jene, die gerne opponierten, weil sie immer opponierten auf der unsteten Suche nach Möglichkeiten, die weder schlechte noch besser, nur eben anders waren und viel Gehör verlangten.
Eine Mehrheit war allerdings einverstanden und hatte sich der Stimme enthalten, weil sie eigentlich wenig oder gar keine Meinung hatte, eine leider nicht zu übersehende Größe, die den ganzen Prozess mit ihrem Nichtwissen doch irgendwie steuerte.
Es siegte schließlich ganz demokratisch eben die schweigende Mehrheit, obwohl ich glaube, es könnte sein, dass manch ein Parteigänger sich aus
unerklärlichen Gründen angepasst hatte und schien, bestochen zu sein. In guter Politik ist auch immer Korruption vorhanden, das ist nicht abzustreiten.
Weil ich in der Lage war, mich aus dem absurden Debakel heraus zu halten, wurde es mir persönlich als unpolitisch vorgehalten. Doch denke ich, wenn Politik im Endeffekt für einige wenige veranstaltet wird, muss ich nicht auch noch etwas dazugeben, was dann wohl doch überstimmt wird.
Nun segelten wir schon sehr lange in einer perfekten Formation, die der menschlichen Luftwaffe fast nahekam, auch wenn Menschen mit Maschinen steuerten und sehr viel Lärm und sehr viel Unfug damit machten.
Und dort unten lag der Fluss, unser neues Heim, und uns gefiel, was wir da sahen.
Die Ruhr, nur ein Nebenfluss eines viel größeren Flusses, hatte fast eine Art von Gemütlichkeit, denn als sie noch gerissen gefährlich war, war sie mit Buhnen und Uferbegradigung von den Menschen gezähmt worden, wie Menschen ja alles was Natur ist, für sich und ihren Nutzen zähmen. Jeder Wald, jede Wiese und jeder kleine Fleck wurde nutzbar gemacht, weil sie immer noch glauben, es gehöre ihnen alles alleine, obwohl ich von Oben von meinem Flug nirgendwo in den Wiesen und Wäldern Grenzen gesehen habe, und es wäre ja auch komisch, ein Land, ein Gebiet mit Mauern und Zäunen zu bepflastern und zu sagen, das ist alles Meins.
Für unsere Leute ist das eine merkwürdige Idee, denn die Gemeinschaft geht doch vor dem Einzelnen, auch wenn wir gerne streiten.
Im Norden erzählte ein alter Eisbär, das Eis in seiner früheren Gegend sei viel dünner und schlechter und brüchig geworden, und das läge an den Menschen, aber wie und warum konnte er nicht sagen. Wir erzählten die Geschichte gerne, weil wir die Menschen auch nicht besonders mochten, weil sie laut und schrill waren und ein jeder was wollte, doch was er wollte, wusste er zumeist nicht.
Im Moment des Fliegens, des Gleitens und Segelns störte mich die Erzählung nicht. Ich war ganz im Tun über der Erde, im Wind, in der Sonne, unter den Wolken. Es machte mich froh, genauso wie es war. Nun waren wir angekommen an unserem Ziel, brachte dies Fleckchen Erde und Wasser doch einige Annehmlichkeiten eines guten geschützten Aufenthalts mit sich.
Ich segelte hinunter, dem Ufer entgegen, bremste mit meinen Flügeln auf dem Wasser und war erfreut, neben dem zischenden Wehr eine behaglich komfortable Insel zu finden, mit üppigen Bäumen und vielem Gestrüpp, ein idealer Ort, den wohlverdienten Wohnungswechsel zu genießen.
Einige Mitglieder aus der Gruppe waren schon vor mir gekommen und hatten sich auf den besten Plätzen eifrig niedergelassen. Viel guter Platz war jetzt nicht mehr vorhanden, denn jeder Kumpane legte nämlich enormen Wert auf den Bereich eines Nestes mit vielsagender Aussicht am Uferbereich. Nur die Schwächeren wurden von der noblen Lage auf unattraktive Bereiche im Inneren der Insel verwiesen. Das war wie immer typisch für die Horde, denn jeder dachte zuerst an sich, dann dachte er noch einmal an sich, und dann erst sah er die anderen.
Unter den mit Flügelschlägen Ankommenden suchte ich meine Gefährtin, die auf dem letzten Stück der Reise etwas zurück geblieben war. Sie sah mich nicht gerade freundlich an, denn ich hatte mich während des Flugs vorsichtig etwas von ihr entfernt, aber leider gab es da einen Zeitpunkt auf der Reise, an dem ich es nicht mehr fertigbrachte, ihr ständig zuzuhören.
Statt jetzt ein wenig mit mir zu schnattern, sagte sie gar nichts, was gefährlichr war als ihr Reden.
Ich musste es wieder gut machen und bot ihr einen besonders schönen Platz zum Nestbau an. Er gefiel ihr nicht. Sie wollte eine vielsagende Aussicht am Ufer, wie es sich, wie sie meinte, in höheren Kreisen gehörte. Ich stritt ab, dass sie aus höheren Kreisen stammte und wir hatten einen Riesenstreit. Zum Schluss fanden wir einen Kompromiss, ein Nest mit vielsagender Seitenansicht zum Ufer. Das passte ihr zwar nicht, aber sie ließ sich darauf ein.
Zu unserem Schreck hatte ein Nachbarpaar sich so unverschämt nahe an unseren Nestbereich begeben und dort sein Nest gebaut, dass unsere Aussicht nun endgültig versperrt war.
Ich weiß nicht was meine Gefährtin dachte, aber etwas Schönes war es wohl nicht.
Die Damen begannen, sich mit feindseligen Blicken zu mustern. Da ihre Aktion des reinen Blickkontakts nichts zuwege brachte, wurde gekrächzt, geschrien und mit den Flügeln geschlagen. Schon waren die beiden in einem nicht gerade damenhaften Kampf verstrickt, den wir Gatten, nicht ohne ein paar Federn zu lassen, beenden mussten.
Von diesem Tag an war die nachbarschaftliche Feindschaft manifestiert. Man würdigte sich keines Blickes, saß auf seinen Eiern und brütete und jeder wünschte eine größere Anzahl an Nachgeborenen wegen der Größe seines Standes.
Der Fluss war angenehm.Ruhig und glatt spiegelte sich das Wiesenufer in ihm. Manchmal fuhren Menschen auf schmalen Holzbrettern vorbei und strengten sich dabei sehr an.
Warum sie das taten, war mir schleierhaft, denn sie mussten ja später auf dem Fluss wieder heraufkommen.
Menschen waren mir sowieso immer ein Rätsel gewesen. Wir flogen und brüteten und suchten Nahrung, um zu überleben, aber was Menschen taten, hatte mit einem schierem Überleben nichts zu tun. Sie machten, glaube ich, vieles aus Langeweile.
Abends wiegte uns das sanfte Rauschen des Wehrs an der Insel in einen geruhsamen Schlaf. Meine Gefährtin und ich kuschelten uns eng aneinander und fühlten uns in den Minuten oder Stunden des Friedens und Glücks richtig wohl.
Dann schlüpften unsere Jungen, Drei an der Zahl. Die Nachbarn hatten auch schon Nachwuchs, Vier an der Zahl.
Das war leider im Ansinnen meiner Frau nicht vorgesehen. Ich muss sagen, auch ich fühlte mich blamiert. Meine Gattin bekam einen Wutanfall. Sie klagte über unsere Gene und war kurz davor, mir die Schuld daran zu geben, doch ich konnte sie von der Anmut und Schönheit unserer drei Kleinen überzeugen, flauschige kleine Bälle, die immer Hunger hatten.
Als unsere Kinder die ersten Schwimmversuche unternahmen, hatte die stolze Mutter ihren seltsamen Standesdünkel abgelegt. Umgeben von ihren Küken bekam sie sogar Bewunderung von Menschenkindern, die die Küken so „süß“ fanden. Die Menschenkinder und auch unsere Kinder wussten ja nicht, was noch alles auf sie zukommen würde und das war gut so.
Nur selten schaute meine Gefährtin zu den Nachbarn hinüber, denn ihr eigenes Glück war ihr genug.
Sie war auch der Meinung, drei Kinder zu hüten sei viel besser als vier. Dann hätten die Kinder mehr Entwicklungschancen. Es sei gar nicht gut, viele Kinder in die Welt zu setzen, denn schließlich müsste jedes ja auch überleben.
Das Wehr neben der Insel rauschte sanft und gleichmäßig und rauschte uns oft in den Schlaf. Ob wir es wollten oder nicht, wir spürten dieses ewige Fließen des Flusses im unermüdlichen wandelnden Kreislauf, in den der Fluss wie alles Lebendige eingewoben war. Wenn aber alles wandelbar ist, so dachte ich, was passiert dann mit uns? Woher kommen wir? Wohin gehen wir?
Meine Frau, die immer ganz praktisch veranlagt war, sagte, solche Gedanken seien unnütz und beschäftigten eigentlich nur Philosophen, die eh nichts anderes täten.
Ich solle mich um die Kinder kümmern, denn dann sähe ich ja, wie die Verwandlung von einem Nichts zu einem Etwas geschehe.
Sie hatte nicht Unrecht.
Meine Fragen, als ich mich in die Luft erhob und über den silbernen Fluss segelte, lösten sich mit dem Wind, als er mich leicht und frei schweben ließ.
Die Erde unter mir schien nur etwas Vergängliches zu sein und es störte mich nicht mehr. Ich war Eins mit dem Fliegen, dem Wind, dem Fluss und der Erde.
Plötzlich drang die Stimme meiner Gefährtin zu mir herauf:
„Wenn du schon da oben fliegst, dann suche auch etwas zu Essen für die Kleinen.“
Autor:Ingrid Dressel aus Bochum |
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