Struwelpeter
Ein altes Kinderbuch
Die älteren netten Damen saßen in der Runde, tranken Kaffee und ich bemühte mich, möglichst nicht aufzufallen, denn des Öfteren hatte ich erlebt, in solchen Gruppen zurecht gewiesen zu werden, weil...
Eine der Verantwortlichen oder die sich dafür hielt, las etwas aus dem Struwelpeter vor und ich stöhnter bei der Ankündigung mit den Worten „Ach, die schwarze Pädagogik“.
Sie las und die älteren Damen sprachen den Text mit selig verklärtem Gesicht mit, eine Erinnerung, ja, die Erinnerung an ihre damalig nicht wahrgenommene Unterdrückung, als Kinder offensiv gezüchtigt worden zu sei mit einem Straf - Buch der vermeitlich ungezogenen Kinderseele.
Ich fragte in die Runde ob das Buch von Frau Dr. Harer bekannt sei, „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind:“ aber es ging unter, ziemlich offensichtlich, da keiner sich damit befassen wollte.
Meiner Nachbarin erklärte ich die Wirkungsweise des Struwelpeter, doch sie widersprach vehement, Paulinchen HÄTTE ja auch die Streichhölzer genommen und Märchen seien ebenso grausam.
Aber der Struwelpeter hatte der Disziplinierung von Kindern gedient.
Ob sie Alice Miller kennen würde, die schweizer Analytikerin?
Von da an sprach sie kaum noch mit mir.
„Mir hat auch der zweite Weltkrieg nicht geschadet.“ sagte sie und etwas später sinnierte sie vergleichend:
„Was diese Flüchtlinge nur haben... alle angeblich traumatisiert aber gehen in die Stadt zum Einkaufen...“ Die Härte in ihrem Gesicht unterstrich ihre Meinung.
Ich war mal wieder nicht meinungskonform, mein Schicksal, und dachte an die verhärteten alten Damen, die nie gelernt hatten, sich mit ihren Traumata auseinanderzusetzen und folglich Flüchtlinge ebenso hart behandelten wie sie einst selbst behandelt worden waren.
„So lange Kinder geschlagen werden – wird es Kriege geben.“
(Eugen Drewermann)
Autor:Ingrid Dressel aus Bochum |
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