Buchbesprechung "Wir sind die Bunten"

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„Wir sind die Bunten“, herausgegeben von Amandara M. Schulzke und erschienen 2020 im Acabus Verlag, ist eine Sammlung von Kurzgeschichten, die das Mittelalter-Festival „Festival-Mediaval“ zum Thema haben.

Ich selbst war zwar noch nie auf dem Festival-Mediaval in Selb, bin aber eine begeisterte Besucherin von Mittelaltermärkten und auch Festivals. Der mittelalterlich-phantastische Weihnachtsmarkt in Dortmund-Fredenbaum z.B. war für mich immer ein heißgeliebtes Highlight. Dadurch fand ich das Thema natürlich sehr ansprechend. Gerade jetzt, in der Coronazeit, vermisse ich diese Events schon arg. Es war somit ein großer Genuss, dank „Wir sind die Bunten“ zumindest lesend wieder in das ganz besondere Mittelaltermarkt-Flair einzutauchen.

Diese spezielle Atmosphäre zieht sich dank der liebevollen, detailreichen Darstellungen durch sämtliche Geschichten: Faszinierende Gewandungen, mitreißende Musik, ausgefeilte Inszenierungen, vielfältige Düfte, ausgefallene Koch- und Handwerkskunst und knisternde Lagerfeuer sind überall präsent. Ich hatte beim Lesen das Gefühl, dass die Autor*innen mich damit regelrecht auf das Festival-Mediaval mitnehmen. Zugleich haben diese Eindrücke, die jedem Mittelaltermarkt-Besucher vertraut sind, bei mir viele schöne Erinnerungen geweckt. Somit war „Wir sind die Bunten“ für mich gerade in der jetzigen festivallosen Zeit eine schöne Lektüre – als kleiner Ersatz für echte Mittelaltermärkte, zum Schwelgen in Erinnerungen und um Vorfreude auf künftige Events zu schüren.

Sehr schön dargestellt war meiner Meinung nach immer wieder der besondere Moment des Schwellenübertritts bei der Ankunft auf dem Festival-Mediaval. Dieses Gefühl, in eine phantastische Anderswelt jenseits des Alltags einzutreten, kenne ich ebenfalls von Mittelaltermärkten und Festivals. Tatsächlich zieht sich dieses Verschwimmen der Grenze zwischen Phantasie und Realität, das für mich den Reiz von Mittelaltermärkten ausmacht, auch durch „Wir sind die Bunten“: So, wie das Festival-Mediaval selbst nicht den Anspruch hat, historische Gegebenheiten wirklichkeitsgetreu nachzustellen (was in einigen Geschichten wie z.B. „Mara und die Knobischlange“ von Tommy Krappweis augenzwinkernd thematisiert wird), schildern auch die Geschichten nicht nur reelle Erlebnisse auf dem Festval-Mediaval. Stattdessen wird in das Festival-Mediaval zu einem Ort der Phantasie und der Magie, wo alles möglich ist – kurzum: Die Geschichten handeln von all dem, was man sich beim Besuch eines Mittelalter-Spektakels erträumt. So entstammt der Großteil der Geschichten in „Wir sind die Bunten“ dem Genre der Phantastik, und auf dem Festivalgelände in Selb tummeln sich neben Menschen auch Walküren, Vampire, Zeitreisende, Aliens, Verfluchte und sogar Götter.

Dementsprechend zieht ist auch die Ungewissheit, was echt und was eine gelungene Inszenierung ist, als wiederkehrendes Motiv durch die Geschichten, etwa, wenn in „Zeitenelelixier“ von Yule Forrest das viktorianische Kleid einer Zeitreisenden für eine gelungene Steampunk-Gewandung gehalten wird oder wenn in „Back to the Roots“, dem Beitrag der Herausgeberin Amandara M. Schulzke, ein Außerirdischer erst mal mühsam anderen Festivalbesuchern beweisen muss, dass er nicht bloß eine Rolle spielt.

Sehr bemerkenswert fand ich, dass die Geschichten bei aller Freude am Phantasieren von einem großen Hintergrundwissen zeugen und sogar gezielt auf diesen Kenntnissen in Geschichte, Mythologie und Literatur basieren. Besonders in Erinnerung geblieben sind mir in diesem Kontext das humorvolle und zugleich lehrreiche Interview mit Karl dem Großen von Robert Focken, die sehr spannende und perfekt recherchierte Geschichte „Nachfolge“ von Friedhelm Schneidewind und die eher unheimliche Story „Des Sängers Fluch“ von Andrea Bannert, deren Handlung auf einem Gedicht von Ludwig Uhland basiert.

Neben phantastischen Geschichten finden sich allerdings auch rein realistische Geschichte mit großem Aktualitätsbezug und klaren politischen Statements. So thematisiert „Tanz auf dem Balkon“ von Billie Przegendza z.B. die Flucht in ein sicheres Leben und spricht sich ganz klar für eine herzliche, weltoffene Willkommenskultur aus. „Schwurbel I – König aller Reptiloiden“ wiederum bezieht Position gegen rechte Verschwörungsideologien und antisemitische Hetze.

Dadurch wird das Festival-Mediaval immer wieder als ein Ort der Toleranz dargestellt: Es herrscht ein Gemeinschaftsgefühl, bei dem Alltägliches, das trennt, ohne Bedeutung ist und alle vereint sind durch die Freude an Genuss und Phantasie. Auf dem Festival-Mediaval ist die Welt bunter, verrückter und magischer – und genau durch diese Vielfalt findet dort jeder seinen Platz und verständnisvolle Weggefährten. Akzeptanz, Heilung und Zusammengehörigkeit sind nicht umsonst stetig wiederkehrende Themen in „Wir sind die Bunten“.

Beeindruckt hat mich, wie vielfältig die Autor*innen das Thema „Festival-Mediaval“ umgesetzt haben: Die Genres reichen von Realistischem über Phantastik bis hin zu Steampunk, Science Fiction und Grusel. Humorvolle, heitere Geschichten wechseln ab mit ernsten Themen. „Von Drachen und Jungfrauen“ (Norman Liebold) hat mir z.B. gerade wegen des philosophischen Inhalts sehr gut gefallen, „Hope – Hoffnung gibt es immer“ (Gabriele Ketterl) fand ich extrem berührend und „Die andere Seite der Idylle“ (Teresa Hofmann) sticht durch das sehr düstere Ende heraus.

Mein Fazit: „Wir sind die Bunten“ ist eine gelungene Hommage an das Festival-Mediaval, die den Zauber dieses Events (oder auch eines Mittelaltermarktes generell) lebendig werden lässt.

Erwähnenswert finde ich noch, dass so ziemlich alle Autor*innen in „Wir sind die Bunten“ eine besondere Affinität zum Festival-Mediaval haben: Manche sind regelmäßig als Gäste, Journalist*innen, Musiker*innen oder Kunsthandwerker*innen auf dem Festival-Mediaval; viele haben allerdings auch schon im Literaturzelt des Festival-Mediaval (das übrigen von Amandara M. Schulzke, der Herausgeberin von „Wir sind die Bunten“ organisiert wird“) ihre Werke präsentiert. Für Besucher*innen des Festival-Mediaval dürfte es daher ein besonderes Schmankerl sein, dass sie in „Wir sind die Bunten“ gleiche eine ganze Anzahl von Autor*innen wiederentdecken können, die sie schon live erlebt haben.

Autor:

Mimi Moriarty aus Oberhausen

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