Leben hinter Gittern auf unbestimmte Zeit: Forensische Psychiatrie im Maßregelvollzug

7. Juli 2011
16:00 Uhr
LWL-Klinik, 44791 Bochum
Leben hinter Gittern. Hier handelt es sich allerdings um die halb hohe Absturzsicherung einer  ganz normalen Bochumer Wohnung.
  • Leben hinter Gittern. Hier handelt es sich allerdings um die halb hohe Absturzsicherung einer ganz normalen Bochumer Wohnung.
  • hochgeladen von Sabine Schemmann

Umfassende und interessante Einblicke in die „Forensische Psychiatrie im Maßregelvollzug“ bot am 07.07.11 ein Vortrag von Frau Ute Franz in der LWL-Klinik Bochum.
Ihre Ausführungen zu Therapie und Sicherheit bezog Frau Franz auf die neue, dem Landgerichtsbezirk Bochum zugehörige LWL-Maßregelvollzugsklinik in Herne-Wanne, die nach langjährigen Bürgerprotesten und gegen die Klage der Stadt Herne nach gerichtlicher Entscheidung errichtet wurde und im Januar diesen Jahres ihre Funktion aufnahm.

Gemäß Tradition zur Eröffnung forensischer Kliniken fand auch in Herne vor Belegung der sogenannte Nachbarschaftstag statt. Insgesamt 5.000 Besucher nahmen die persönlich an die unmittelbaren Anwohner gerichtete Einladung zur Besichtigung der Facheinrichtung an, die dazu dienen soll, Berührungsängste mit der Behandlungsstätte psychisch kranker Straftäter abzubauen und drängende Fragen zu beantworten.
Anfang Februar erfolgte dann die Erstbelegung durch Umverteilung forensischer Patienten aus den Standorten Lippstadt-Eickelborn, Dortmund und Rheine.

In einer forensischen Klinik wird durch gerichtliche Entscheidung untergebracht, wer nach einer begangenen Straftat aufgrund einer vorliegenden psychischen Erkrankung nach § 20 oder § 21 StGB als erheblich vermindert schuldfähig bzw. schuldunfähig eingestuft wird und wegen dieser Erkrankung weiterhin erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind.
Eine Verurteilung in den Maßregelvollzug dient dabei einer Sicherung bei gleichzeitiger Therapierung psychisch kranker Straftäter und kann potentiell lebenslänglich bedeuten.

Sehr anschaulich ging Frau Franz auf in der Öffentlichkeit verbreitete falsche Vorstellungen bezüglich der Erkrankung der Täter und deren Anteil an der Gesamtverurteilung ein. In Strafprozessen werde der größte Anteil schuldfähig verurteilt. Im Jahr 2010 wurden in NRW 18.500 Personen im Strafvollzug und 2.750 Personen aufgrund festgestellter Schuldunfähigkeit im Maßregelvollzug untergebracht.
Während die durchschnittliche Verweildauer ohne Berücksichtigung einiger weniger lebenslang einsitzender Täter in der Forensik bei 5-8 Jahren liege, sei der Strafgefangene einer Justizvollzugsanstalt durchschnittlich in der Regel schneller wieder in Freiheit.

Ziel der forensischen Unterbringung sei eine Verringerung des Gefährdungspotentials für die Allgemeinheit durch gesicherte Unterbringung sowie die Besserung der gerichtlich eingewiesenen Personen, die Frau Franz aufgrund ihrer Erkrankung nicht als Täter, sondern als Patienten bezeichnet. Schutz der Bevölkerung und Rehabilitierung durch Ermöglichen eines zukünftig möglichst eigenständigen, straffreien Lebens in der Gesellschaft seien dabei gleichrangig zu sehen.

Die Fachklinik in Herne, die sich nicht als Gefängnis, sondern als "Ort der Therapie" versteht, bietet Platz für 90 männliche, psychisch kranke Straftäter. Entgegen in der Bevölkerung verbreiteter Ansichten und Befürchtungen liege der Anteil von Sexualstraftätern bei nur ca. einem Drittel bis Viertel der Patienten. Aktuellen Zahlen zufolge gliedern sich die Einweisungsdelikte derzeit u.a. in 29% Körperverletzungen, 26% Sexualdelikte, 17% Straftaten gegen das Leben, 11% Raub und Erpressung und 8% Brandstiftung.
Die Patienten wiesen u.a. mit 44% überwiegend Psychosen, Schizophrenie und affektive Störungen, zu 31% Persönlichkeitsstörungen, 11% Intelligenzminderung und zu geringen Prozentzahlen hirnorganische Störungen und Störungen durch Suchtmittel auf.

Eine forensische Klinik zeichnet sich durch strenge äußere und innere Sicherheitsvorkehrungen aus. Bauliche, technische und elektronische Sicherheitsmaßnahmen durch fünfeinhalb Meter hohe Mauern, Zäune, Sicherheitsstreifen, Überwachungsanlagen und Pfortenanlagen gewährleisten den unmittelbaren Schutz während der Unterbringung.
Mit Ausnahme räumlich zu dicht angeordneter Randpflanzungen gibt es aus Gründen der Sicherheit keine Gestaltungseinschränkung der Außenanlagen. Die begrünten Flächen der forensischen Klinik in Herne bestehen derzeit jedoch lediglich aus Rasenflächen. Obwohl sich ein begrüntes Umfeld mit Gehölzpflanzungen positiv ausgleichend auf das seelische Erleben psychisch kranker Menschen auswirkt, sind in der Planung vorgesehene Solitärbäume mangels finanzieller Mittel bislang nicht gepflanzt worden.

Organisatorische Sicherheitsmaßnahmen und eine fachgerechte Therapie dienen der inneren Sicherheit sowohl während der Unterbringung, als auch langfristig darüber hinaus, wobei zur Vermeidung von Rückfällen forensische Nachsorgekliniken zur Verfügung stehen.
Alle Beschäftigten werden intensiv in Sicherheitsrichtlinien und -vorkehrungen geschult, die letztlich der eigenen Sicherheit im Arbeitsalltag dienen. Dazu gehöre z.B. die ständige Kontrolle zurückgegebener Werkzeuge nach Wahrnehmung werktherapeutischer Angebote. In diesen Aspekten unterscheide sich forensische Psychiatrie nicht von normaler stationärer Psychiatrie, wobei es im Maßregelvollzug seltener zu Übergriffen von Patienten komme.

Die intensive Betreuung durch medizinisch-therapeutisches Personal unterschiedlicher Qualifikation stellt eine fachgerechte Behandlung der Krankheit als Ursache für die begangene Tat sicher.
Einer normalen stationären psychiatrischen Behandlung vergleichbar, werden auch in der Forensik Therapiepläne erstellt, die den Tag analog eines Stundenplans strukturieren. Neben psychotherapeutischen Behandlungen werden z.B. Sport-, Kunst- und Musiktherapien angeboten, die in der Regel hoch motiviert angenommen werden. Bei Wahrnehmung der Angebote stehen die Patienten unter kontinuierlicher Beobachtung und Beurteilung.

Anders als in stationärer psychiatrischer Behandlung, deren Aufenthaltsdauer durch Vorgaben der Krankenkassen zeitlich eng begrenzt ist, dient die Patientenbeurteilung in der Forensik einer Überprüfung des Gefährdungspotentials.
Denn wer im Maßregelvollzug untergebracht ist, hat ein Recht auf Lockerung des Freiheitsentzugs. Dieses sei gesetzlich verankerter Teil der Therapie, wobei das grundsätzliche Recht nicht von Wohlwollen oder Zeitdauer des bisherigen Aufenthalts, sondern vom Therapieerfolg abhängig sei und jederzeit rückgängig gemacht werden könne.
Spreche man von Lockerung, so handele es sich um lange Zeitprozesse, die sich über Jahre erstrecken. In jede Lockerungsentscheidung fließen die Beobachtungen und Beurteilungen aller Berufsgruppen ein. In allen Fällen einer Entscheidung habe die Sicherheit der Allgemeinheit Priorität.

Lockerung ist in vier Stufen unterteilt: Der 1:1 begleitete Einzelausgang kennzeichnet die Stufe 1, ein bis 1:4 begleiteter Gruppenausgang stellt Stufe 2 dar. Spricht man von Stufe 3, handelt es sich um einen unbegleiteten Einzelausgang. Stufe 4 entspricht in Form eines mehrtägigen Einzelausgangs einer Beurlaubung.
Eine Inanspruchnahme dieser Stufen führt nicht automatisch in die Entlassung, da mancher mangels Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Steuerung nie alle Stufen erreiche.
Wird Lockerung erteilt, so erfolgt jeder Ausgang unter klar abgesprochenen Zielvorgaben. Werde den Vereinbarungen nicht entsprochen und der Freigänger kehre zeitlich nicht exakt zurück, gilt das Verhalten als „Entweichung“ und man löse innerhalb von 5 Minuten eine Fahndung aus.

Die Belegung der Fachklinik erfolgt in Einzel- und Doppelzimmern. Da forensische Psychiatrie "grundlegende soziale Fähigkeiten des zwischenmenschlichen Umgangs" vermitteln und trainieren soll, ist die Alltagsgestaltung im Maßregelvollzug Teil der Therapie. Die Patienten verbringen ihre Zeit unter gesicherten Bedingungen im Miteinander von Wohngruppen.
Das regelmäßige Zusammenleben der unterschiedlich Erkrankten in den Therapie- und Freizeitangeboten stelle sich nicht problematisch dar. Im Gegensatz zu den aus Strafvollzugsanstalten bekannten Repressalien gegen Mitgefangene würden hier Kontakte untereinander vorsichtig gehandhabt, da jede Entgleisung des Einzelnen von Therapeuten wahrgenommen werde oder an diese herangetragen werden könne, was sich nachteilig auf die Perspektive einer Lockerung auswirkt. Da die Resozialisierung Ziel der Forensik ist, erfolge sofort ein professionelles Gegensteuern.

Als spezielles Problem bei der forensischen Behandlung wurde von Frau Franz angesehen, dass der im Maßregelvollzug Untergebrachte zwar Nothilfe zu dulden habe, eine Behandlung und hier speziell die Gabe von Medikamenten gegen den Willen des Patienten jedoch nicht erfolgen dürfe.
Da die Gefährdung der Bevölkerung bereits durch die Unterbringung ausgeschlossen ist und eine Eigengefährdung selten ein Problem sei, bestehe kaum eine Handhabe, die Therapiefähigkeit z. B. gerade psychotischer Patienten durch Medikamente zu verbessern. Verweigerung durch körperlichen Widerstand gelte rechtlich als Ausdruck der Autonomie und müsse geduldet werden. Juristisch sei selbst psychotische Willensbildung als freie Willensbildung eingestuft.

Weitere sehr aufschlußreiche Informationen zur Maßregelvollzugsanstalt in Herne können unter www.lwl-forensik-herne.de abgerufen werden.

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

12 folgen diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.