Worüber wir reden, wenn wir über die Qualität der Krankenhausversorgung reden
Interview des Bündnis Klinikrettung mit Dr. med. Bernd Hontschik - Ein hervorragender Beitrag über unser krankes Krankenhausfinanzierungssystem.
Herr Dr. Hontschik, Sie haben mehrere Jahre im Krankenhaus und später ambulant als Chirurg gearbeitet und die schrittweise Kommerzialisierung der medizinischen Versorgung erlebt. Was bedeutet es, wenn in den Krankenhäusern zunehmend wirtschaftliche Erwägungen die Entscheidungen prägen? Wie verändert das den ärztlichen Beruf?
Es sind nicht wirtschaftliche Erwägungen, die Entscheidungen prägen – diese Formulierung verharmlost eigentlich, was hier wirklich passiert ist. Es ist heute eine völlig andere Struktur. Als ich vor über vierzig Jahren begonnen habe, als Assistenzarzt im Krankenhaus zu arbeiten, waren wirtschaftliche Erwägungen auch nicht völlig unbekannt. Der entscheidende Unterschied zur heutigen Situation ist aber, dass die wirtschaftliche Geschäftsführung und der medizinische Betrieb vollkommen voneinander getrennt waren. Natürlich haben wir mitbekommen, dass jedes Jahr aufs Neue jedes Krankenhaus einzeln für sich Verhandlungen mit den Krankenkassen um die Höhe des Tagessatzes führen musste. Natürlich haben wir auch mitbekommen, dass jedes Jahr aufs Neue Zuschüsse in Millionenhöhe seitens des Krankenhausträgers erforderlich waren, um die negative Bilanz auszugleichen. Aber ich kann mich an keine einzige Situation erinnern, wo die Geschäftsführung sich in die medizinischen Entscheidungen eingemischt hätte. Dennoch galt auch damals schon die interne Devise, nicht nur medizinisch zu entscheiden, sondern auch an das „Wohl“ des Krankenhauses zu denken. Wir wurden gehalten, freitags keine Entlassungen vorzunehmen, sondern erst montags, damit übers Wochenende nicht allzu viele Betten leer stünden. Aber eines kann ich sicher sagen: Es hat kein Patient Schaden genommen, wenn er ein oder zwei Tage zu lange im Krankenhaus bleiben musste. Das kann man von den Fallpauschalen nicht behaupten. Tausende haben an dieser Finanzierung massiv und messbar Schaden genommen, denn es wurden Tausende von unnötigen medizinischen Maßnahmen und Abertausende von unnötigen Operationen durchgeführt, einzig und allein des Geldes wegen. Und das verändert den ärztlichen Beruf vom Grundsatz her. Wenn man zu möglichst viel Medizin, möglichst schneller Medizin und möglichst billiger Medizin gezwungen wird, dann hat der Gewinn sich unmerklich zur Schere im Kopf entwickelt und beeinflusst ärztliche und pflegerische Maßnahmen und Konzepte massiv und schon im Ansatz. Oder, um einen der größten Ärzte des zwanzigsten Jahrhunderts zu zitieren: „In dem Augenblick, in dem die Fürsorge dem Profit dient, hat sie die wahre Fürsorge verloren.“
Anfang der 2000er wurde, unter anderem mit dem Argument der Qualitätssteigerung, die DRG-Fallpauschalenfinanzierung eingeführt. Wann stand Ihrer Meinung nach die Qualität der Versorgung mehr im Zentrum der Behandlung: in Zeiten der Selbstkostendeckung oder jetzt, bei der DRG-Fallpauschalenfinanzierung?
Das ist eigentlich eine Suggestivfrage. Natürlich stand die Qualität der Behandlung früher auch im Vordergrund jeder Behandlung. Es ist doch das ureigenste Anliegen, es ist doch das grundlegende und sinnstiftende Ethos der ärztlichen und pflegerischen Tätigkeit, bestmögliche Qualität für die Erkrankten zu erreichen. Die Selbstkostendeckung ermöglicht die bestmögliche Qualität. Die Fallpauschalen haben aber etwas ganz anderes, nämlich den bestmöglichen Gewinn in die medizinischen Abläufe implementiert. Das ist der fundamentale Unterschied. Fallpauschalen verknüpfen die medizinische Tätigkeit mit der ökonomischen Bilanz – das war das Neue. Daher hat die Einführung der Fallpauschalenfinanzierung auch zu keinerlei Qualitätssteigerung beigetragen, im Gegenteil. Entgegen allen öffentlichen Beteuerungen ging es bei der Einführung der DRGs nie um Qualität, sondern es ging nur und ausschließlich um das Erreichen „schwarzer Zahlen“. Es wird in der gegenwärtigen Diskussion über die Zukunft unserer Krankenhäuser kaum ein Begriff mehr missverstanden und mehr missbraucht als Qualität.
In der Debatte um die anstehende Krankenhausreform wird viel über die Qualität der Versorgung gesprochen. Diese soll gemessen werden, zum Beispiel anhand der Anzahl von Behandlungen, die in einem Krankenhaus innerhalb eines medizinischen Fachgebiets im Jahr vorgenommen werden, oder auch anhand von Komplikationszahlen und Sterblichkeitsstatistiken. Was halten Sie davon?
Diese Frage bringt ein unlösbares Problem auf den Punkt. Was ist denn eine Messung? Was kann man messen? Mengen, Strecken, Gewichte, Zeiträume kann man messen. Messen ist eine Quantifizierung und wird es immer bleiben. Wenn man also Qualität messen will, müsste man eine Quantifizierungsmöglichkeit für Qualität finden – die Quadratur des Kreises. Wie misst man die Qualität einer Mahlzeit oder einer Farbe? Als Arzt behandele ich aber nichts Messbares, ich behandele keine Laborwerte, keine Röntgenbilder, kein Körpergewicht und keine Körpertemperatur. Als Arzt behandele ich Menschen, kranke Menschen. Ein Produkt am Ende einer industriellen Fertigung kann man messen, testen, prüfen. Wäre der Mensch nur eine Maschine, also ein zweigliedriges Ursache-Wirkungs-System, dann ließe sich dieses Konzept auch in der Medizin durchführen. Lebewesen sind aber keine technischen Maschinen. Zwischen Ursache und Wirkung geschieht in einem Lebewesen wie dem Menschen ein höchst individueller Vorgang, den ich die ‚Bedeutungserteilung’ nenne. Die medizinische Behandlung ist keine industrielle Produktion von Waren für welche Gesundheit auch immer, sie wird nicht von Dienstleistern auf einem Gesundheitsmarkt konkurrent angeboten, und eine Gesundheitsindustrie gibt es allenfalls bei der Produktion der für die Medizin notwendigen Waren, nicht aber in der Arzt-Patient-Beziehung. Qualität ist in keinem Fall nicht messbar. Messen kann man allenfalls Surrogatparameter, so zum Beispiel die erwähnten Komplikationszahlen oder Sterblichkeitsziffern. Solche Surrogate können aber vollkommen in die Irre führen. Nur ein Beispiel: Der beste Chirurg wird naturgemäß die schwersten Fälle zugewiesen bekommen. Damit hat er notgedrungen die meisten Komplikationen und die meisten Todesfälle. Statistisch gesehen ist er der Schlechteste im Lande, chirurgisch gesehen ist er der Beste weit und breit. Krankenhaus-Rankings sind einfach nur lächerlich. Das aktuelle Transparenzgesetz kann ich nur als Beleidigung aller medizinisch Tätigen verstehen.
Die BefürworterInnen der Reform – vor allem Gesundheitsökonomen – sagen, dass es die Behandlungsqualität verbessern würde, wenn man die Krankenhäuser zentralisiert. Als Kern des Problems der Krankenhäuser führen sie unter anderem Überversorgung, zu hohe Krankenhauskapazitäten oder eine inadäquate Krankenhausversorgung an. Auf dieser Darstellung basiert die ganze Krankenhausreform. Aber haben die Gesundheitsökonomen das Problem überhaupt richtig erkannt? Was sagen Sie als Arzt mit vielen Jahren Erfahrung im stationären wie im ambulanten Bereich dazu?
Es ist im Zusammenhang mit der Zentralisierung immer von akuten Notfällen, vom Schlaganfall oder vom Herzinfarkt die Rede, oder von schweren chronischen Erkrankungen wie etwa Krebserkrankungen, um kleinere Krankenhäuser zu diffamieren. Es ist eigentlich eine Unverschämtheit gegen über dem medizinischen Personal kleiner Krankenhäuser, diese ständig für unfähig zu erklären. Ärztinnen und Ärzte, Schwestern und Pfleger haben in kleineren Krankenhäusern die gleich hohe Qualifikation, die gleiche jahrelang Ausbildung wie in größeren oder großen Häusern. Meine Antwort ist ganz einfach: Bei den akuten Ereignissen ist die schnellstmögliche Hilfe entscheidend. Zentralisierte Krankenhäuser mit großartigen personellen und technischen Voraussetzungen helfen nicht, wenn der Patient es nicht mehr erreicht. Kleinere Krankenhäuser sind rasch erreichbar und ohne Wenn und Aber in der Lage, die Erstversorgung solcher Patienten zu leisten, um sie dann, je nach Notwendigkeit, in größere Häuser zu verlegen. Und bei den chronischen Erkrankungen kommt es ja überhaupt nicht auf Geschwindigkeit an, sondern auf eine ruhige und qualifizierte Abklärung der Indikation, mit den Erkrankten und mit den Angehörigen. Und nebenbei bemerkt: Es kann die beste Medizin sein, in manchen Fällen nichts zu tun. Weder für die Indikation noch fürs qualifizierte Nichtstun brauche ich ein hochgerüstetes Zentralkrankenhaus – im Gegenteil. Ein intelligentes Abbauen von tatsächlichen Überkapazitäten hat mit Zentralisierung absolut nichts zu tun.
Es gibt Bereiche, die im DRG-System besonders stark unterfinanziert sind, zum Beispiel die Geburtshilfe oder Kindermedizin. Andere Bereiche, wie die Herzchirurgie, werden sehr gut durch die DGR-Fallpauschalen finanziert. Woran liegt das eigentlich?
Das frage ich mich auch schon länger. Was würde denn einer auskömmlichen Finanzierung von Kinderkliniken oder Kreißsälen im Wege stehen, selbst wenn man Anhänger des DRG-Systems ist? Man könnte ja mit einem Federstrich die entsprechenden Pauschalen auf ein auskömmliches Niveau anheben. Auffällig ist doch, dass die gut finanzierten Bereiche wie die operative Orthopädie oder die operative Kardiologie eines sehr hohen medizintechnischen und pharmakologischen Einsatzes bedürfen. Da würde ich mal raten, dass sich im DRG-Vergütungskonzept die große „Lobbykraft“ der Pharmaindustrie und der Geräteindustrie, letztere wird übrigens immer unterschätzt, durchgesetzt hat.
Selbst der Sachverständigenrat gibt zu, dass der Anstieg von Behandlungen in bestimmten Gebieten nicht auf medizinische Notwendigkeit, sondern auf andere Anreize, insbesondere die Vergütung zurückzuführen ist – also die Fallpauschalenfinanzierung, deren vielen Probleme Sie bereits angesprochen haben. Ist dieses Finanzierungssystem überhaupt noch reformierbar?
Das Fallpauschalensystem ist nicht reformierbar. Es ist ein grundsätzlich falscher Ansatz. Fallpauschalen zerstören die Kernanliegen einer guten Medizin und eines solidarischen Gesundheitswesens. Es gibt aus meiner Sicht nur eine Möglichkeit, aus diesem Hamsterrad, aus dieser Sackgasse wieder zum eigentlichen Auftrag zurückzufinden, nämlich mit einem intelligenten Konzept der Selbstkostendeckung. Die großen Worte, die im Zusammenhang mit der „Revolution“ des Krankenhauswesens gefallen sind, haben ja zu nichts weiter als einer halbherzigen Reduzierung der Fallpauschalenfinanzierung geführt. Dadurch wird sich ganz sicher nichts verbessern. Im Gegenteil: Das Standortsterben wird damit weiter angeheizt. Und eines darf man nicht vergessen: Nicht nur die DRGs müssen voll und ganz überwunden werden. Gleichzeitig müssen alle Krankenhäuser als Teil der staatlichen Fürsorgepflicht den privaten Klinikkonzernen wieder weggenommen werden. Die Prinzipien der kapitalistischen Warenproduktion und Profitmaximierung haben in einem Sozialsystem nichts zu suchen. Wie eine solche Rückführung geschehen kann, das ist eine große Aufgabe von Politik. Das wäre dann wirklich eine „Revolution“. Denn die Renditen, die diese börsennotierten Konzerne ausschütten, sind nichts weiter als Diebstahl der Substanz unserer Krankenkassenbeiträge.
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Zum Autor: Dr. Bernd Hontschik (1952) ist Facharzt für Chirurgie und war bis 2015 in seiner chirurgischer Praxis in der Frankfurter Innenstadt tätig. Er ist Autor einiger politischer Bücher über das Gesundheitswesen, aktuell ist sein Buch „Heile und herrsche“ im Handel. Er ist Herausgeber der Reihe „medizinHuman“ im Suhrkamp Verlag und u.a. Mitglied der Uexküll-Akademie (AIM), der IPPNW, bei medico international und bei mezis. Er schreibt seit Jahren regelmäßige Kolumnen in der Frankfurter Rundschau und in der Ärztezeitung.
Kontakt: www.medizinHuman.de.
Autor:Carsten Klink aus Dortmund-Ost |
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