Buchrezension
Sahra Wagenknecht - Die Selbstgerechten (sollten mal das ganze Buch lesen)

Wagenknecht durchleuchtet die Hintergründe und Ursachen für den Wandel der linken Parteien in den westlichen Ländern im Verlauf der letzten Jahrzehnte. Ihr geht es darum, was das heißt: Linkssein im 21. Jahrhundert. Und: Was sollte die moderne Linke von einem aufgeklärten Konservatismus lernen? Die im zweiten Teil des Buches skizzierte Programmatik wäre in den Augen der Autorin die einer modernen sozialen Volkspartei.  | Foto: Nadine Dilly
  • Wagenknecht durchleuchtet die Hintergründe und Ursachen für den Wandel der linken Parteien in den westlichen Ländern im Verlauf der letzten Jahrzehnte. Ihr geht es darum, was das heißt: Linkssein im 21. Jahrhundert. Und: Was sollte die moderne Linke von einem aufgeklärten Konservatismus lernen? Die im zweiten Teil des Buches skizzierte Programmatik wäre in den Augen der Autorin die einer modernen sozialen Volkspartei.
  • Foto: Nadine Dilly
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Wird ein Blick auf die Kritikerinnen und Kritiker des neuen Buches "Die Selbstgerechten - Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt" von Sahra Wagenknecht geworfen, fällt auf, dass die Kritik sich fast ausnahmslos nur auf den ersten Teil des Buches bezieht, in dem die LINKE-Bundestagsabgeordnete Sahra Wagenknecht mit durchaus fundierten Quellen und Argumenten den Lifestyle der sogenannten "Linksliberalen" sowie dessen politische Auswirkungen analysiert. Der zweite Teil des Buches in dem Wagenknecht insbesondere Wirtschaftsthemen anspricht, wird hingegen eigentlich nie kritisiert, geschweige überhaupt thematisiert.

Ironischerweise wirft Wagenknecht im ersten Teil ihres Buches eben diesem von ihr als "linksliberal" bezeichneten Teil der gesamten politischen Linken vor, dass dieser die Identitätspolitik deutlich schwerer bei der politischen Arbeit und Haltung gewichtet als die soziale Frage und Wirtschaftsthemen. Durch die Konzentration auf den ersten Teil und die eigentlich durchgehende Ignoranz dieser kritisierten Linksliberalen für Sozial- und Wirtschaftspolitik wird Sahra Wagenknechts These eindrucksvoll bestätigt. Wagenknechts Buch ist nämlich zutiefst anti-kapitalistisch ("Die alten Erzählungen stimmen nicht mehr." & "Kapitalistisches Wirtschaften war noch nie per se innovativ. Sein eigentlicher Antrieb ist, aus Geld mehr Geld zu machen." - Seite 273), aber nicht "anti-wirtschaftlich". Ein feiner Unterschied. Wagenknecht, die nicht umsonst zu den beliebtesten Politikerinnen Deutschlands zählt, zeigt linke Alternativen in der Wirtschaftspolitik, die über ein bequemes "im Sozialismus wird alles besser" weit hinausgeht. Das ist für viele natürlich schon sehr anspruchsvoll.

Daher müsste Sahra Wagenknechts Streitschrift als Weckruf für die politische Linke verstanden werden. Schließlich sind nicht gerade rosige Zeiten für "linke" Parteien in denen siegessicher dem Morgenrot entgegengeschritten wird. Die SPD ist nur noch ein Schatten ihrer selbst, die Nachrichten-Illustrierte DER SPIEGEL verspottet die Partei DIE LINKE angesichts ihrer stagnierenden Zustimmung beim Wahlvolk als die "stabilste Partei Deutschlands". Sind die transatlantisch ausgerichteten Grünen mit ihren Waffenexportwünschen, Autobahn- und Stuttgart21-Bahnhofsbauten wirklich noch eine linke Partei, die als Agenda2010 und Hartz4-Partei noch das Wohl der hart arbeitenden und prekär beschäftigten Menschen vertritt? Klimapolitik muss man sich auch leisten können. Die Klimafrage ist immer auch eine soziale Frage.

"Trostpreis für die Linke"

Wagenknecht hat in ihrem Buch deutlich herausgearbeitet, dass sich ein Teil der politischen Linken unter dem Deckmantel der Weltoffenheit und der Diversität von den Wirtschaftsfragen, also der Frage  nach der gerechten Verteilung des gemeinsam erarbeiteten Reichtums -früher hat man das in der politischen Linken mal Mehrwert genannt- verabschiedet hat. Die US-amerikanische Journalistin Diana Johnstone hatte diese Konzentration der Linken auf das "Recht auf Anderssein" mal als "Trostpreis für die Linke" bezeichnet. Nach der kompletten Niederlage in der wirtschaftlichen Arena, dürfe die Linke nun die dominante gesellschaftliche Doktrin auf der Basis des Multikulturalismus, der Sorge um Minderheiten und Antirassismus definieren. Dafür wird der Kapitalismus mit all seinen Auswüchsen als Wirtschaftsform festgeschrieben. Die "Vielfaltseuphorie" vertrage sich "wunderbar mit dem Neoliberalismus", der Migranten als billige Arbeitskräfte und Lohndrücker missbraucht, die akademischen Ressourcen (Ärzte, Alten- und Krankenpfleger, Ingenieure) der Herkunftsländer ausbeutet und das ganze noch als Wohltat verkauft. All diese Thesen belegt Sahra Wagenknecht eindrucksvoll in ihrem neuen Buch und zwingt die politische Linke sich mit ein paar sehr bequemen politischen Lebenslügen auseinander zu setzten. Dies ist vermutlich auch der Grund für die meisten persönlichen Angriffe auf Wagenknecht, denen Argumente gerne mal fehlen.

Linke Alternativen zum Neoliberalismus

Dabei will Wagenknecht nicht weniger als die politische Linke in Wahlen wieder groß und stark, ja mehrheitsfähig zu machen. Wagenknecht erläutert nachvollziehbar, dass es in der Bevölkerung keinen rechten Zeitgeist gibt. Wagenknecht belegt sogar Mehrheiten für dezidiert linke Forderungen und einer Organisation der Gesellschaft nach linken Grundsätzen. Mit der pseudolinken Anbiederung an den Neoliberalismus wird diese linke Alternative für die Bevölkerung aber unkenntlich. Am Beispiel des vermeintlich linken bedingungslosen Grundeinkommens zeigt Wagenknecht, dass dieses auch bedingungslos neoliberal sein kann.

Free Lunch

Im Unterkapitel "Free Lunch" zeigt Wagenknecht nachvollziehbar auf, wie die von ihr geforderten wirtschaftlichen Veränderungen, die eine Verbesserung der Lebenssituation breiter Bevölkerungsschichten bedeuten würde, finanziert werden könnten. Wagenknecht zwingt die Lesenden sich mal eben mit der Funktionsweise von Zentralbanken auseinanderzusetzen und braucht  genau eine Seite, um eine neoliberale Mär zu zerlegen und die Zentralbank in den Dienst einer sozialen Wirtschaftspolitik zu stellen. Des Weiteren stellt Wagenknecht mit dem "Leistungseigentum" eine neue Eigentumsart vor und kritisiert einige Seiten später sehr pointiert den Überwachungskapitalismus und schildert wie diesem entgegengetreten werden kann, damit Wertschöpfung nicht nur noch aus Wertabschöpfung besteht.

Wagenknecht wirbt für einen starken Staat in der Wirtschaft, wenn sie informiert, dass nämlich in der Realität "im i-Phone nicht eine Technologie (steckt), die nicht staatlich finanziert wurde." Wagenknecht wirbt für eine linke Agrar-, ja für eine linke Höfepolitik, wenn sie schildert, dass die Bauern früher knapp 50 Prozent vom Fleischkaufpreis bekamen und heute nur noch rund 22 Prozent. Dass sich die falschen die Taschen voll machen, belegt Wagenknecht auch mit einer Studie von Ökonomen aus Princeton: Unternehmen seien immer erfolgreicher darin, ihre Produkte zu Preisen weit oberhalb der Kosten zu verkaufen. Bis zu 67 Prozent. 

Für Menschen, egal ob links, liberal oder konservativ, die mit der herrschenden Wirtschaftsordnung noch keinen Frieden geschlossen haben, ist das neue Buch von Sahra Wagenknecht ein großer Fundus an Argumenten und Strategien, der die neoliberale Erzählung als Geschwätz entlarvt und für eine neue soziale Idee wirbt, die eigentlich immer die alte war.

Sie brauchen das Buch nicht am Amazonas kaufen. Das Buch erhalten Sie bestimmt auch bei Ihrer kleinen, inhabergeführten Buchhandlung, die vor Ort ihre Steuern und passable Löhne zahlt.

Campus Verlag (14. April 2021)
Gebundene Ausgabe: 345 Seiten
ISBN-10 : 3593513900
ISBN-13 : 978-3593513904
24,95 Euro

Sahra Wagenknecht: Ihr Programm für Zusammenhalt im Land

Autor:

Carsten Klink aus Dortmund-Ost

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