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Kritischer Geist in der Krise – Zur Aufgabe von Wissenschaft

Mit seinem kritischen Denkansatz (Sapere aude – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!) ist Immanuel Kant der wohl wichtigste Denker der deutschen Aufklärung. | Foto: Von Gottlieb Doebler - http://www.philosovieth.de/kant-bilder/bilddaten.html, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=32847847
  • Mit seinem kritischen Denkansatz (Sapere aude – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!) ist Immanuel Kant der wohl wichtigste Denker der deutschen Aufklärung.
  • Foto: Von Gottlieb Doebler - http://www.philosovieth.de/kant-bilder/bilddaten.html, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=32847847
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In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Forschung & Lehre (8-21) erschien ein Beitrag einer Gruppe von 17 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus unterschiedlichsten Fachdisziplinen. Der Beitrag setzt sich kritisch mit Entwicklungen im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik auseinander, die der Unabhängigkeit und der Freiheit der Wissenschaft schaden können.

Wissenschaftliche Expertise würden von politischer Seite meistens selektiv zur Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung herangezogen. Die ganze Breite der verfügbaren wissenschaftlichen Analysen und Einschätzungen sei in der Öffentlichkeit unzureichend zur Geltung gekommen. Expertenmeinungen, die nicht unmittelbar politisch gewollte Maßnahmen unterstützten, seien oft ausgeblendet worden.

Auffällig ist, dass sich fast keine der großen deutschen Tageszeitungen mit dem Beitrag auseinandergesetzt hat. Bis auf die Berliner Zeitung, die in den letzten Tagen zum Themenbereich Coronamaßnahmen und Bürgerrechte einige sehr interessante Artikel veröffentlicht hat.

"Lässt sich eine Instrumentalisierung der Wissenschaft durch die Politik und ein Mangel an Vielfalt wissenschaftlicher Zugänge zu aktuellen Problemen in der Krise beobachten? Die Autorinnen und Autoren dieses Beitrags bejahen dies und fordern ein Umdenken.", moderiert die Zeitschrift Forschung & Lehre den folgenden Beitrag der 17 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an:

"Gerade in Krisenzeiten muss es die Aufgabe von Wissenschaft bleiben, fragwürdige Umstände als solche zu benennen und zu hinterfragen. Eine der Aufklärung verpflichtete Wissenschaft konstituiert sich dabei durch selbständiges, selbstkritisches, umfassendes, systematisches und konsequentes Streben nach Erkenntnis. Sie tut dies aus der ihrem Wesen gemäßen Freiheit heraus, welche der Rechtsstaat um seiner selbst willen anerkennt.

Von der Wissenschaft zur Expertokratie

Wir beobachten derzeit eine Reduktion von Wissenschaft als konstruktiv-kritischem Diskurs aus unterschiedlichen Perspektiven auf das Bereitstellen von Expertise, die dazu dienen soll, politische Maßnahmen daraus abzuleiten und zu rechtfertigen. Dies ist in mehrfacher Hinsicht problematisch:

Wissenschaftler, die als Experten auftreten, sind in dieser Rolle nicht mehr uneingeschränkt Wissenschaftler.

Die politische Erwartung an Experten ist oft, eindeutige Aussagen zu in der Regel aktuellen Problemkreisen zu treffen, die dann unmittelbar als Handlungsanweisungen übernommen werden können.

Einerseits geht dabei notwendig verloren, dass wissenschaftliche Erkenntnisse selten eindeutig und in der Anwendung immer deutungsbedürftig sind: Sie sind daher auch in der Wissenschaft selbst meist kontrovers. Diese Kontroversen bilden sich aber in einzelnen, von der Politik abgefragten  Expertenäußerungen nicht ohne weiteres ab. Dieser kaum zu umgehende Umstand wird dann problematisch, wenn nur noch einzelne Experten gehört werden, nicht aber die notwendige Vielfalt der Zugänge zum Problem.

Andererseits sind politische Maßnahmen aus wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht direkt ableitbar. Zwar sollten politische Entscheidungen Bezug auf solche Erkenntnisse nehmen, sie gründen aber auf Werturteilen und sind letztlich Willensentscheidungen, die sich auf normative Überzeugungen stützen und demokratisch legitimiert sein müssen. Sie beziehen eine Vielzahl von Interessenlagen ein, die sie zum Ausgleich bringen wollen. Sie sind ferner an geltendes Recht, insbesondere die Verfassung gebunden. Insofern ist es falsch und rechtsstaatlich bedenklich, wenn
politische Maßnahmen gerade in gravierenden Fragen wie der Einschränkung von Grundrechten als alternativlos dargestellt werden, weil dies der "Stand der Wissenschaft" gebiete. Denn zum einen ist nichts alternativlos, und zum anderen hängen Entscheidungen über zu wählende Alternativen von den verfolgten Zwecken ab. Diese kann "die Wissenschaft" aber weder selbst setzen, noch bei Zielkonflikten demokratisch legitimiert gegeneinander abwägen. Außerdem müssen die Zwecke ihrerseits legitim, d.h. freiheitlich begründet sein.

Angesichts der hier angesprochenen Instrumentalisierung von Wissenschaft betonen wir deren Aufgabe in einem rechtsstaatlich verfassten Gemeinwesen:

Öffentlicher Vernunftgebrauch

Wissenschaft ist immer Anwältin eines Theorie und Praxis umfassenden Vernunftgebrauchs. Wenn ein demokratischer Staat tiefgreifende Grundrechtseingriffe mit wissenschaftlicher Expertise begründet, dann darf auf wissenschaftliche Erkenntnisse nicht nur an einzelnen Stellen Bezug genommen werden. Rationalität gerade in einem Klima von Verunsicherung, Angst und kakophonen Debatten sicherzustellen, kann ein Beitrag der Wissenschaft sein. Das aber muss die Politik auch zulassen, indem sie den Entscheidungen breite wissenschaftliche Evidenz zugrunde legt, den dazugehörigen Diskurs erträgt und nicht entscheidungsbasiert Fakten kommuniziert. Eine sich auf Wissenschaft beziehende Politik muss nachvollziehbar argumentieren, differenzieren, abwägen und reflektieren, sowohl in Bezug auf fachlich relevante Einzelfragen wie auf fundamentale Fragen von Demokratie und Rechtsstaat.

Dazu muss die Politik die ganze interdisziplinäre Breite der wissenschaftlichen Expertise einbeziehen. Unterlässt sie dies, entsteht ein Klima von dann berechtigtem Misstrauen, Irrationalität und daraus folgenden polemischen Kontroversen.

Gerade jene Wissenschaftler, die das Gehör der Politik finden, haben die Verantwortung, ihre eigene Expertise durch andere zu ergänzen und zu kontrastieren. So kann Wissenschaft einen Beitrag zu öffentlichem Vernunftgebrauch leisten, von dem eine den Prinzipien der Aufklärung verpflichtete Demokratie abhängt.

Kritik und Debattenklima

Wissenschaft hat gerade in der Demokratie eine kritische Funktion. Kritik ist dabei nicht als negativ und destruktiv zu verstehen, sondern sie zielt auf Retardierung bei vermeintlich naheliegenden Lösungen, auf Besinnung in der Diskussion und auf die Öffnung des Problemhorizonts.

Krinein meint die Fähigkeit, Unterscheidungen zu treffen und zu begründeten Urteilen zu kommen. Kritik bedeutet daher gerade in Krisenzeiten, scheinbare Selbstverständlichkeiten, vermeintlich eindeutige Phänomene und Ergebnisse und daraus resultierende "Alternativlosigkeiten" zu hinterfragen.

Kritik zielt dabei auch auf den Erhalt ihrer eigenen Bedingung, nämlich der Wissenschafts- und Meinungsfreiheit in der Demokratie.

Wenn solche Kritik in einem aufgeheizten Debattenklima nicht mehr möglich ist, dann sind Wissenschaft und Demokratie fundamental gefährdet.

Hiergegen muss sich Wissenschaft wehren, denn sonst droht die Gefahr der Dogmatisierung in Form der Diffamierung von Alternativen als Immunisierung gegen Kritik. Der Dogmatismus kann nur durch kritische Prüfung überwunden werden. Daher bedarf es steter Skepsis und Ideologiekritik, damit das Ideal einer kritischen Rationalität an Boden gewinnt.

Wahrheitssuche und Erkenntnisgrenzen

Vornehmste Aufgabe von Wissenschaft in einem der Aufklärung verpflichteten Gemeinwesen ist die freie und unabhängige Orientierung am Ideal der Wahrheitsfindung. Dies schließt den begründeten Zweifel nicht aus, sondern ein. Wenn die Wissenschaft aber vorrangig den Erwartungen der Politik folgt und dabei ihre Themensetzungen den finanziellen Förderungsangeboten anpasst, dann unterläuft sie selbst eben diese Aufgabe.

Zudem muss sich Wissenschaft der grundsätzlichen Frage stellen, wo sie ihre Erkenntnisgrenzen erreicht. Diese Frage stellt sich insbesondere dann, wenn in komplexen Systemen Strukturen und Kausalitäten gesucht werden und daraus die Effekte von Eingriffen in solche Systeme mit hinreichender Genauigkeit vorhergesagt werden sollen. Je komplexer das System, desto schwieriger ist das Erkennen von Kausalitäten und desto fehleranfälliger sind die Vorhersagen für die Konsequenzen von Systemeingriffen. Darin steckt die Gefahr, vermeintlich effiziente, aber vielleicht sogar schädliche Maßnahmen zu priorisieren und tatsächlich wirksame zurückzustellen oder zu übersehen.

Pluralität und Kontroverse

Zentrale Merkmale von Wissenschaft wie Ergebnisoffenheit, Pluralität der Zugänge und Kontroversität ihrer Ergebnisse sind also nicht störende Eigenheiten verquerer Intellektueller, die den politischen Prozess und die Krisenbewältigung hemmen.

Vielmehr sind sie Bedingung dafür, dass nicht im Namen oder mit Hilfe der Wissenschaft Regierungspraktiken etabliert werden, die rechtsstaatlich mindestens fragwürdig sind.

Sachliche Kontroverse und plurale Problemzugänge als Kennzeichen von Wissenschaft halten zugleich auch den Raum der demokratischen Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger offen.

Freiheit und Verantwortung

Bedingung für alles Vorgenannte ist die öffentliche Anerkennung und zugleich aktive Inanspruchnahme der Freiheit von Wissenschaft, die dadurch zu einer freiheitlichen Demokratie beiträgt. Freiheit der Wissenschaft ist wie alle Freiheit in der Demokratie daher notwendig verantwortete Freiheit.

Verzichtet Wissenschaft etwa in ausgerufenen Krisenzuständen selbst auf den verantwortlichen Gebrauch ihrer Freiheit, dann wird sie ihrer gerade in der Krise bedeutenden Aufgabe für die Demokratie nicht gerecht.

Der Rückzug aus dem verantwortlichen Freiheitsgebrauch führt dazu, dass die wissenschaftliche wie politische Freiheit schleichend abgebaut werden kann.

Bildung und Diskurs

Schließlich verweisen diese Zusammenhänge insgesamt auf den wesentlichen Beitrag universitärer bzw. akademischer Lehre und Forschung zu Bildung und Mündigkeit. Beide sind Voraussetzung der Diskursfähigkeit in einer lebendigen Demokratie. Beide wurden jedoch bereits im Zuge der "Bildungsreformen" der letzten zwanzig Jahre an den Rand der Aufmerksamkeit gedrängt.

Wissenschaft muss durch freie und auf das Selbstdenken hinleitende Lehre zu sachlicher Urteilsfähigkeit, Kritikfähigkeit und Persönlichkeitsbildung junger Menschen beitragen.

"Lehre" ist dabei nicht mit der Bereitstellung von Informationen zu verwechseln, Bildung ist eine reflexive und ethische, keine rein technisch (z.B. durch Digitalisierung) lösbare Aufgabe. Dazu ist Lehre in Präsenz und in geschützten Räumen unabdingbar, denn eben jener offene, sachliche und kritische Diskurs, der hier eingefordert wird, muss im Studium erprobt und geübt werden. So schadet die Verschulung, Vereinheitlichung und Verflachung von Studiengängen der Diskursfähigkeit genauso wie die Reduktion oder gar Verfemung von Meinungspluralität und Kontroverse in der aktuellen Krise.

Diese erweist sich somit auch als Krise der Wissenschaft und als Krise der wissenschaftlichen Bildung. Beides neu zu fundieren, muss daher eine Konsequenz aus den aktuellen Erfahrungen sein."

Kontakt: info@kritischer-geist.de
Website: www.kritischer-geist.de

Autoren:
Prof. Dr. Rainer Baule, Lehrstuhl für Bank- und Finanzwirtschaft, FernUniversität in Hagen
Jun.-Prof. Dr. Alexandra Eberhardt, Juniorprofessur für Deutsch als Zweitsprache, Universität Paderborn
Prof. Dr. Ursula Frost, Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik, Schwerpunkt Bildungstheorie, Universität zu Köln
Prof. Dr. Katrin Gierhake, LL.M. (Nottingham), Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Rechtsphilosophie, Universität Regensburg
Prof. Dr. Alexandra Grund-Wittenberg, Lehrstuhl für Altes Testament, Philipps Universität Marburg
Honorarprofessor Dr. Lothar Harzheim, Fachgebiet Numerische Berechnungsverfahren im Maschinenbau, TU Darmstadt
Prof. Dr. Thomas Sören Hoffmann, Lehrgebiet Praktische Philosophie I: Ethik - Recht - Ökonomie, Fernuniversität in Hagen
Prof. Dr. Jochen Krautz, Professor für Kunstpädagogik, Fakultät für Design und Kunst, Bergische Universität Wuppertal
Prof. Dr. Robert Obermaier, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Accounting und Controlling, Universität Passau
Jun.-Prof. Dr. Luna Rösinger, Juniorprofessur für Kriminologie und Strafrecht, Eberhard Karls Universität Tübingen
Prof. Dr. Peter Rohner, Titularprofessor für Wirtschaftsinformatik, Universität St. Gallen
Prof. Dr. Klaus-Martin Schulte, FRCS, FRACS, Ordinarius für Chirurgie, Australian National University
Dr. Jens Schwachtje, Molekularbiologie, Nürtingen
Prof. Dr. Harald Schwaetzer, Philosophisches Seminar der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte, Bernkastel-Kues
Prof. Dr. Anke Steppuhn, Fachgebiet Molekulare Botanik, Universität Hohenheim
Prof. Dr. André Thess, Lehrstuhl für Energiespeicherung, Universität Stuttgart
Prof. Dr. Christin Werner, Professur für Musikdidaktik Grundschule, Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden

Autor:

Carsten Klink aus Dortmund-Ost

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