Welt ohne Kompass
Führende Friedensforschungsinstitute stellen Friedensgutachten 2024 vor
Die Zahl der weltweiten Todesopfer durch Kriege und Konflikte ist auf einem Höchststand: Die Kriege in der Ukraine und in Gaza, Militärputsche und dschihadistische Gewalt in Afrika fordern zehntausende Opfer. Zugleich stockt der Kampf gegen Klimawandel, Armut und Hunger. In Europa und den USA setzen autoritäre und extremistische Bewegungen Demokratien unter Druck. Das ist die weltpolitische Ausgangslage des Friedensgutachtens 2024.
Deutschlands führende Friedensforschungsinstitute sprechen darin Empfehlungen an die Politik aus, wie sich Konfliktursachen verringern und Gewaltspiralen durchbrechen lassen. Viele politische Erfolge der 1990er und 2000er Jahre sind scheinbar dahin: Multilaterale Verträge erodieren, internationale Institutionen verlieren an Einfluss und demokratische Errungenschaften, wie die Unabhängigkeit der Justiz oder die Pressefreiheit, werden selbst in europäischen Ländern beschnitten. In dieser Welt, die offenbar keinen Kompass mehr hat, stellen Deutschlands führende
Friedensforschungsinstitute Orientierungspunkte vor.
Brutaler Überfall und menschliches Leid: Neuer Krisenherd Gaza
Der Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 hat Israel tief erschüttert: Mehr als 1.000 Menschen wurden bei dem brutalen Massaker ermordet, weitere 250 verschleppt. Die Gräueltaten der Hamas, die das Existenzrecht Israels negiert, hat die Weltgemeinschaft schockiert. Bei allem Recht zur Selbstverteidigung sehen die Friedensforschungsinstitute die militärische Reaktion der israelischen Armee im Gazastreifen aufgrund der vielen zivilen Opfer jedoch kritisch. Nach Ansicht der Friedensforscherinnen und Friedensforscher verstößt Israel dabei gegen das humanitäre Völkerrecht. Die Bundesregierung sollte sich für die Befolgung der Entscheidungen der internationalen Gerichte einsetzen. Für eine kurzfristige Entlastung der Menschen vor Ort müsse es zunächst darum gehen, die humanitäre Lage im Gazastreifen zu verbessern, auf die Befreiung der Geiseln hinzuwirken und eine Waffenruhe zu erzielen, fordert das Friedensgutachten 2024. Gleichzeitig muss an einer tragbaren Friedenslösung für die gesamte Region gearbeitet werden. Die Bundesregierung sollte trotz aller politischen Widerstände auf eine international verantwortete Übergangsphase für den Gazastreifen nach Kriegsende hinarbeiten, die humanitäre Versorgung, wirtschaftliche Erholung und politische Perspektiven ermöglicht. Langfristig sollte sich die Bundesregierung für eine Zweistaatenlösung einsetzen, auch wenn diese derzeit kaum realisierbar ist.
Waffen, Diplomatie und internationale Unterstützung für die Ukraine
Im Krieg gegen die Ukraine gilt es, militärische Logik und diplomatische Ansätze klug miteinander zu verzahnen. Die Expertinnen und Experten des Friedensgutachtens plädieren dafür, den Druck auf Russland etwa in Form von Sanktionen aufrechtzuhalten und die Ukraine weiterhin militärisch zu unterstützen. Um mittelfristig Friedensverhandlungen mit Russland aufnehmen zu können, braucht die Ukraine verlässliche Sicherheitsgarantien des Westens, konstatieren die Friedensforscherinnen und Friedensforscher. Schon jetzt sollten Form und Inhalt von Friedensverhandlungen vorbereitet und etwaige Drittparteien ausgelotet werden.
Entwicklungszusammenarbeit mit Putschisten und Autokraten definieren
Mehr als die Hälfte der weltweiten Gewaltkonflikte findet in Sub-Sahara Afrika statt, zumeist als Kämpfe zwischen Regierungen und dschihadistischen bewaffneten Gruppen. In den vergangenen Jahren verschärften sieben Staatsstreiche in Westafrika die instabile Lage. Die drei Militärregime in Mali, Burkina Faso und Niger fanden vor allem in Russland einen neuen Sicherheitspartner. Alle drei Länder spielen eine zentrale Rolle bei der weiteren Entwicklung der Sahelzone. Zudem ist ihre humanitäre und sicherheitspolitische Entwicklung von transnationaler Bedeutung, vor allem was Migration und illegalen Handel betrifft. Die Bundesrepublik sollte sich deshalb dort weiter diplomatisch und entwicklungspolitisch engagieren sowie Leitlinien für den Umgang mit Putschisten und Autokraten definieren.
Armut, Hunger und Gewaltkonflikte bedingen sich gegenseitig
Die Begrenzung des Klimawandels und die Bekämpfung von Armut, Hunger und sozialer Ungleichheit gelingen nicht in dem Umfang, in dem es geboten wäre. Nur 15 Prozent der Nachhaltigkeitsziele, die sich die Weltgemeinschaft 2015 gesetzt hatte, konnten bislang erreicht werden. Die Expertinnen und Experten des Friedensgutachtens empfehlen, lokale Akteure und Strukturen künftig stärker verantwortlich in die Entwicklungszusammenarbeit einzubeziehen und diese zugleich in internationale und nationale Hilfsstrukturen einzubetten.
2023 war das wärmste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Ernteausfälle, Überflutungen und weitere Folgen des Klimawandels zerstören Lebensgrundlagen. Insbesondere in Ländern des Globalen Südens nehmen Armut und soziale Ungleichheit zu – die häufigsten Ursachen für Gewalt, wie die Militärputsche in Westafrika zeigen. Steigt die Zahl der bewaffneten Konflikte, steigt auch die Zahl der Vertriebenen.
Durch Rüstungskontrolle Gefahr einer nuklearen Eskalation verringern
2023 stiegen die Rüstungsausgaben weltweit. Eine effektive Rüstungskontrollpolitik kann teure Rüstungsdynamiken, das Risiko weiterer militärischer Konfrontationen und die Gefahr einer nuklearen Eskalation einhegen. Neue Technologien wie Künstliche Intelligenz oder unbemannte Waffensysteme revolutionieren die Kriegsführung. Gleichzeitig erhöhen sie die Reaktionsfähigkeit auf dem Schlachtfeld und vergrößern dadurch das Eskalationsrisiko in Konflikten. International verbindliche Regeln für die Entwicklung und den Einsatz dieser Technologien sind dringend geboten. IT-Systeme und kritische Infrastrukturen sollten besser vor Angriffen geschützt werden.
Widerstandsfähigkeit demokratischer Institutionen stärken
Kriege und Konflikte bestimmen nicht nur die Außenpolitik, Demokratien stehen auch innenpolitisch unter Druck: Viele Menschen verlieren das Vertrauen in demokratische Institutionen. Populistische, extremistische und autoritäre Bewegungen gewinnen an Einfluss. Die Politik sollte Unzufriedenheit und soziale Missstände ernst nehmen und demokratische Institutionen schützen und stärken, damit ihre Unabhängigkeit auch bei wechselnden Mehrheitsverhältnissen sichergestellt ist.
Autor:Carsten Klink aus Dortmund-Ost |
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