Coronakrise
Corona-Virus in unseren Pflegeheimen – ein evidenzfreies Drama in drei Akten

Das EbM-Netzwerk versteht sich als das deutschsprachige Kompetenz- und Referenzzentrum für alle Aspekte der Evidenzbasierten Medizin. Es vereint Vertreter*innen verschiedener Fächer, Professionen, Sektoren und Organisationen und bietet Raum für unabhängige, kritisch-wissenschaftliche Diskussionen zu allen Fragen im Zusammenhang mit einer evidenzbasierten gesundheitlichen Versorgung. | Foto: EbM
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  • Das EbM-Netzwerk versteht sich als das deutschsprachige Kompetenz- und Referenzzentrum für alle Aspekte der Evidenzbasierten Medizin. Es vereint Vertreter*innen verschiedener Fächer, Professionen, Sektoren und Organisationen und bietet Raum für unabhängige, kritisch-wissenschaftliche Diskussionen zu allen Fragen im Zusammenhang mit einer evidenzbasierten gesundheitlichen Versorgung.
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Prolog: Das EbM-Netzwerk hat sich bereits zu Wort gemeldet und die Generierung entscheidungsrelevanter Evidenz für die Langzeitpflege in Zeiten der Corona-Pandemie gefordert (1). Warum soll es nicht möglich sein, solide das Covid-19-Geschehen in Pflegeheimen zu dokumentieren, Modelle begleitend zu evaluieren und evidenzbasiert Entscheidungen über die Pflege und Begleitungdieser vulnerablen Gruppe von Mitbürger*innen zu treffen?

Erster Akt: Seit Wochen schon sind die etwa 800.000 Bewohner*innen in unseren Pflegeheimen abge-schirmt von der Außenwelt, können keinen Besuch mehr empfangen, sollen die Einrichtung nicht mehrverlassen, erhalten keine Angebote mehr durch zugehende Therapeut*innen, und auch die vertrauten Hausärzt*innen werden oft nicht mehr zum Hausbesuch vorgelassen. Der MDK und die Heimaufsichtstatten den Heimen keine Besuche mehr ab, die Dokumentationspflicht ist ausgesetzt. Was also in den Einrichtungen passiert, wie der Einsamkeit, Verzweiflung, Langeweile begegnet wird, ob die gesund-heitliche Versorgung und Pflege in gebotener Qualität fortgeführt werden kann, bleibt verborgen. Es entzieht sich der Überprüfung und kann auch später – im Falle juristischer Beweisführung – kaum rekonstruiert werden.

Pflegeheimbewohner*innen haben grundsätzlich ein hohes Sterberisiko. Bis zu 30 Prozent versterbenbinnen 12 Monate. Die Bewohner*innen sind mehrheitlich weit über 80 Jahre alt, haben zumeistmehrere Krankheitsdiagnosen, sind gebrechlich und mehr als die Hälfte ist von Demenz betroffen. Dieengräumliche Gemeinschaftsunterkunft und die körpernahen Begegnungen mit wechselnden Pflegenden bergen ihrerseits ein Risiko für die schnelle Ausbreitung von übertragbaren Erkrankungen.

Zweiter Akt: Der "Lockdown" der Einrichtungen kann nur einer Hilflosigkeit nicht vorbereiteter Behörden und Träger geschuldet sein. Wo sind die Logik und die Evidenz, dass es die besuchenden Angehörigensind, die die Inf ektion in die Einrichtungen tragen? Derweilen aber ist das Pflegeteam zugehend in wechselnder Präsenz. Die gesundheitlichen Folgen der sozialen Isolation der Bewohner*innen werden billigen in Kauf genommen. Ganz offensichtlich sind jedoch die geübten Strategien in den Pflegeheimen nicht wirksam und sicher, denn das Corona-Virus breitet sich trotz Abschirmung gegen Besucher*innen scheinbar ungehindert weiter aus (2).

Erklärtes Ziel aller Regierungen, die ernsthafte Strategien zur Eindämmung der Corona-Pandemie anstrengen, ist der Schutz von Hochrisikogruppen. Umso unbegreiflicher und katastrophaler ist derUmstand, dass Pflegheime so schlecht auf die Pandemie vorbereitet waren und es lange Zeit eklatantan Schutzkleidung und verbindlichen Konzepten zum Umgang mit der Corona-Pandemie fehlte undweiterhin fehlt (2,3).

"Es ist nichts über die wahre Anzahl der Covid-19 Erkrankungen in Pflegeheimen bekannt"
Dritter Akt: Das RKI hat nunmehr erstmals Zahlen zum Infektionsgeschehen aus Pflegeheimen, anderenBetreuungseinrichtungen und Massenunterkünften bekannt gegeben. Mehr als 14.000 Coronafälleseien auf diesen Bereich zurückzuführen, bei allerdings sehr hoher Unsicherheit der wahren Häufigkeit.Beispielsweise fehlt bei über 40 Prozent die Angabe, in welchen Einrichtungen die Infektionen aufgetretenseien (4). Mit anderen Worten: Es ist nichts über die wahre Anzahl der Covid-19 Erkrankungen in Pflegeheimen bekannt, weder über die Anzahl der Bewohner*innen noch über die erkrankten Pflegenden, auch nicht über die Zahl der betroffenen Pflegeheime. Über die Prävalenz dersymptomlosen versus symptomatischen Bewohner*innen und Pflegenden kann keine Aussage getroffen werden.

Referenzen
(1) Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V. Covid-19 Pandemie: So viel Zeit muss sein! Keine Experimente mit der alten und chronisch kranken Bevölkerung ohne wissenschaftliche Begleitung.Stellungnahme, 27.03.2020
(2) Osterloh F. Sorge um Pflegeheimbewohner. Deutsches Ärzteblatt 2020; 117: A 808-A810
(3) Ludwig K, Roßbach H. Hilfe dringend gesucht. Trotz wohlklingender Ankündigungen und Versprechen vonPolitik und Behörden sehen sich viele Pflegeinrichtungen weiter benachteiligt. Süddeutsche Zeitung,Donnerstag 23.04.2020, Nr. 94
(4) Heinzle C. Mindestens 14.000 Coronafälle in Heimen. https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr/corona-zahlen-heime-101.html, Zugriff am 25.04.2020
(5) Arons MM, Hatfield KM, Reddy SC, et al. Presymptomatic SARS-CoV-2 Infections and Transmission in a Skilled Nursing Facility.N Engl J Med 2020 Apr 24. doi: 10.1056/NEJMoa2008457 [Epub ahead of print]

Das EbM-Netzwerk versteht sich als das deutschsprachige Kompetenz- und Referenzzentrum für alle Aspekte der Evidenzbasierten Medizin. Es vereint Vertreter*innen verschiedener Fächer, Professionen, Sektoren und Organisationen und bietet Raum für unabhängige, kritisch-wissenschaftliche Diskussionen zu allen Fragen im Zusammenhang mit einer evidenzbasierten gesundheitlichen Versorgung. | Foto: EbM
Autor:

Carsten Klink aus Dortmund-Ost

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