Wenn es wieder aufsteigt ...

3Bilder

~ * ~ * ~

Mit diesem Film war plötzlich alles wieder da, obwohl diese eine Frau im Hintergrund nur eine Randfigur der Handlung darstellte. Der Fokus der Kamera war auf die Hauptperson im Vordergrund gerichtet, was diese Frau, die im Film des eigenen Lebens Hauptperson gewesen war, nur unscharf in Erscheinung treten ließ.

Völlig scharf hingegen stiegen plötzlich die Bilder der Erinnerungen auf.

Ungerufen.
Ungewollt.
Schmerzhaft.
Kaum auszuhalten.
Herausgehoben aus der Tiefe nie verarbeiteten seelischen Erlebens, wo sie die große Wunde daran hindern, zu verheilen.

Mit dem Bild und den Erinnerungen kommen auch die Tränen der vergangenen drei Jahre wieder.
Tränen des Unverständnisses, der Fassungslosigkeit, der Verzweiflung und der Wut.
Tränen, die niemand trocknet, weil sich die Verantwortlichen keiner Schuld bewusst sein möchten und sich nicht zuständig erklären wollen.
Die Vergangenheit überholt die Gegenwart im Turbogang.

Man sieht sie unscharf frontal auf einem Sessel sitzen, die Frau im Hintergrund. Sie ist mehr eine Silhouette, die dennoch das Wesentliche sichtbar werden lässt:
den Pagenkopf mit den sehr dunklen Haaren;
die leicht nach rechts geneigte und doch aufrecht ordentliche und sehr selbstbewusste Haltung,
mit der sie sich aufmerksam auf die Person vor ihren Augen konzentriert und so den Zuschauer direkt erreicht;
den aufrechten Kopf mit Blick geradeaus;
die leger auf den Lehnen ruhenden Arme;
die in inszenierter Lässigkeit parallel zueinander stehenden Beine.
Die Atmosphäre! Da ist sie wieder.
Nein, bitte! Nein … Sie schluckt.
Es tut weh, es geht tief. Sie will es nicht mehr.
Sie sitzt wieder dort. Mit dieser Frau. Nein !!! Sie kann das nicht mehr!

Sie hatte Interesse spüren sollen; sich menschlich wahrgenommen fühlen sollen von der Frau, die ihr da freundlich gegenüber saß.
Sie hatte glauben sollen, dass sie ernsthaft interessiert sei.
An ihr als Mensch.
Damals.
Aufrichtig angenommen und aufgehoben sollte sie sich fühlen.
Eingewebt in den Kokon aus Sympathie und Charme, der immer dichter wurde und sie das glauben ließ und am Ende Angst erzeugte, je mehr die Frau die Fäden webte.
Angst, dass er nicht halten würde, der Kokon aus Wärme und Geborgenheit und freundschaftlichem Miteinander. Jenseits dieser Tür, durch die sie einmal in der Woche ging.
Sie hatte ihr versichert, dass er halten würde.
Auch später noch.
Nach der Zeit.
Immer wieder hatte sie es ihr versichert.
Und gelächelt.
Ein zutiefst warmherziges Lächeln, natürlich, liebenswert und attraktiv.

Dann hat sie ihn zerschnitten.
Eines Tages.
Unvermittelt.
Sie hatte den Kokon zerschnitten, als die Zeit noch längst nicht reif war.
Als er halten musste, weil sie dringend Hilfe brauchte. Weil etwas Entsetzliches geschehen war.

Es kümmerte die Frau nicht. Sie zerschnitt ihn trotzdem.
Gnadenlos.
Unerbittlich.
Autoritär.
Sie griff zur Schere und schnitt drauflos, weil es geschehen war.
Sie sah ihr in die Augen, als sie schnitt. Mit ihren hellen ausdrucksstarken Augen, aus denen bisher immer die vertrauensvolle Nähe sprach, die jetzt verschwunden war.
Sie zerschnitt den Kokon aus Charme und Sympathie und freundschaftlichem Miteinander und zerschnitt die Seele mit.
Seitdem hat sie nicht aufgehört zu bluten.
Sie versuchte, selbst zu weben.
Geschafft hat sie es nicht.
Sie wusste ja nicht, wie das geht. Das Weben.
Das hatte ihr die Frau nicht beigebracht.
Sie stürzte ab und stürzte tief.
Die Seele zerschmetterte am Boden.

Jetzt sitzt sie wieder hier vor ihr, die Frau mit den sehr dunklen Haaren und dem Pagenkopf und den sehr hellen ausdrucksstarken Augen.
Zum Greifen nah zerschneidet sie noch einmal den Kokon.
Schneidet wieder in die Seele.
Jetzt in diesem Augenblick.
Sie verschwimmt in den Tränen ihrer Augen. Diese Atmosphäre, die Wärme, die Nähe, die Vertrautheit und die Freundschaft, die sich zu ihr den Weg in den Wohnraum bahnt.

Es war Berechnung.
Es war eine Lüge.
Die enge Verbindung.
Die Nähe.
Die Wärme.
Und die Sympathie.

Bewusst erzeugt durch die Haltung des Körpers;
durch die Arme seitlich leger auf den Lehnen;
durch die inszenierte Lässigkeit der Beine;
durch den aufrechten Kopf;
durch den Ausdruck der Augen;
durch die sich tief verankernde Wärme der Stimme.
Der Kokon, so viel zu eng gewebt, war ihr zu einem Nest geworden.
Zu einem warmen Nest, in dem sie sich gut aufgehoben fühlte.
Sicher. Geschützt. Durch diese Frau.

Nur vermeintlich geschützt
von dieser Frau
in die Irre geführt
manipuliert und verletzt.
Missbrauch der Seele
von Frau zu Frau.

Es war eine Lüge - Sie wusste das nicht.
Es war Berechnung -Sie wusste das nicht.
Es war eine Studie - Sie wusste das nicht.
Dass die Frau etwas lernte - das wusste sie nicht.
Sie war ihr Objekt - und sie wusste es nicht.
Sie war ihre Ausbildung - und wusste es nicht.
Der Sinn der Kassetten - Sie kannte ihn nicht.
Das Hören mit Dritten - Sie wusste es nicht.
Dass die Frau es erzählte - Sie wusste es nicht.
Dass es andere erfuhren - Sie wollte es nicht.
Sie wurde benutzt - und sie wollte es nicht.
Sie sollte gehen - und wollte es nicht.
Sie wollte es nicht.
Sie wollte es nicht.

Sie wollte die Freundschaft - und durfte es nicht.
Die Freundschaft erhalten - das durfte sie nicht.
Sie wollte verstehen - und durfte es nicht.
Sie brauchte die Hilfe - Sie erhielt sie nicht.
Sie wollte sterben - und schaffte ... es ... nicht.

Ein Mensch, entsorgt in nur einem Schritt,
verletzt an der Seele durch entschlossenen Schnitt,
verletzt durch die Frau.
Schutzlos.
Allein,
weil nicht sein kann, was nicht darf sein.

Sie war Material für die Approbation,
doch es will niemand wissen, wen kümmert das schon?
Die Freundschaft, erstickt zu Karrierezwecken;
es helfen Viele, ihn zu verdecken,
den Schaden, den niemand sehen will -
denn es würde sonst um die Studie still.

Ein Mensch, verschlissen, gedemütigt, krank,
die Wunde in ihm liegt seit Jahren blank,
entsorgt aus dem Blickfeld.
Verzweifelt.
Allein.
Es wird nie mehr geschehen.
Nie wieder.
Nein.
Sie schwört es sich täglich ganz vehement:

„Nie wieder werde ich Therapie-Patient.“

© Sabine Schemmann, Freie Erzählungen Januar 2012

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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