Wenn die Stille der Heiligen Nacht das Herz nicht mehr erreicht
~ * ~ * ~
„Wirklich Weihnachten ist dann,
wenn die Stille der Heiligen Nacht
auch in unser Herz gefunden hat“
(Unbekannt).
Henriette lachte bitter, als sie die Grußkarte sah, die so liebevoll dekoriert in der Auslage des Schaufensters auf einen Käufer wartete. Die Stille der Heiligen Nacht … wie lange war das her, dass sie die tief im Innern hatte spüren können ...
Es war jetzt fast fünf Jahre her, dass sie beschlossen hatte, eine psychotherapeutische Behandlung aufzunehmen, weil sie schon lange unerträglich unter Depressionen litt. Sie war viele Jahre arbeitslos gewesen, hatte deshalb keine Kraft mehr, mit ihrer Lage und mit der Erkrankung umzugehen, deren Erleben man gesunden Menschen kaum verständlich machen konnte, und hatte aus der eigenen Unzulänglichkeit heraus eine Frau sehr vor den Kopf gestoßen, die sie eigentlich gut leiden mochte und an deren Freundschaft sie zunächst geglaubt hatte.
Die Schuld an dem Zerwürfnis quälte Henriette sehr, weil sie wusste, dass sie am Ende einer Negativentwicklung den Halt verloren hatte. Ihr war klar geworden, dass es letztlich daran lag, dass ihre Sichtweise auf die Dinge und auf zwischenmenschliche Verbindungen unter ihrer Depression so sehr gelitten hatte, dass sie die freundschaftliche Verbundenheit anderer nur noch ständig angezweifelt hatte und sich nicht mehr ernst genommen fühlen konnte. Dadurch hatte sie zerstört, was eine nette dauerhafte Freundschaft hätte werden können.
Mit schweren Vorwürfen gegen sich selber nahm sie die psychotherapeutische Behandlung auf. Sie wollte endlich lernen, mit ihren Depressionen umzugehen, um zu verhindern, dass etwas Vergleichbares ein zweites Mal geschah. Das sagte sie der Psychotherapeutin auch direkt zu Anfang in der ersten Sitzung.
Die Behandelnde, der sie sich gegenüber sah, war ungefähr im gleichen Alter. Sie trat Henriette offen gegenüber, wirkte warmherzig und freundlich. Das unkomplizierte und sehr jugendliche Wesen des ihr bis dahin unbekannten Menschen war ihr auf Anhieb so sympathisch, dass sie sich vom ersten Augenblick an gut verstanden. Deshalb war einvernehmlich schnell eine angenehme Nähe hergestellt, die sich im Verlauf der Zeit immer stärker festigte. Ihr Verhältnis zueinander war oft dem zweier Freundinnen vergleichbar, die miteinander lachten und zuweilen schäkerten und seit frühen Jugendzeiten alle Sorgen miteinander teilten.
Das zu spüren tat Henriette gut, weil ihr neben Ehe und Familie eine tiefe und vertrauensvolle Freundschaft ganz empfindlich fehlte. Eine solche erkannte offensichtlich auch die Psychotherapeutin, denn sie sprach schließlich aus, was immer deutlicher zu merken war, wenn man sich einmal in der Woche zur Behandlung traf, um die Probleme durchzusprechen: sie bezeichnete das Verhältnis zwischen ihnen beiden freundschaftlich. Die ihr aus Freude über diese Sympathie auf Gegenseitigkeit angebotene Tasse Kaffee aus Anlass des Geburtstags von Henriette verschob sie auf die Zeit nach Beendigung der Therapie. Sie bestätigte auf Henriettes Nachfrage, dass es nicht unmöglich sei, Kontakte nach Beendigung einer psychotherapeutischen Behandlung aufrecht zu erhalten und erzählte sogar, dass sich aufgrund therapeutischer Gespräche schon einmal eine Freundschaft ausgebildet hatte, weil man sich sympathisch fand. Die so lange Zeit vermisste gute Freundin schien gefunden, da die von ihr empfangenen zwischenmenschlichen Signale stimmten.
Mit der Zeit aber fing Henriette an, zu zweifeln. Schließlich durfte sich nicht wiederholen, was zuvor passiert war; sie durfte sich nicht noch einmal auf eine Freundschaft einlassen, die gar nicht wirklich ernst gemeint war, weil die Verletzung nicht ein zweites Mal ertragen werden konnte. Henriette hatte plötzlich Angst vor den Folgen dieses Miteinanders, das sie nicht mehr sicher einzuschätzen wusste. Trat diese Frau ihr gegenüber wirklich ehrlich auf? War die Sympathie, mit der sie ihr begegnete, auch aufrichtig gemeint und der ihr gezeigte Charme auch echt? Durfte die Verbindung, die sie als freundschaftlich bezeichnet hatte, wirklich eine Zukunft haben? So lauteten die Fragen, die Henriette quälten. Eine Freundschaft war ihr längst entstanden, weil die Nähe eine völlig selbstverständliche geworden war. Was sich entwickelt hatte, war fest und nicht mehr rückgängig zu machen.
Henriettes Depressionen wurden stärker. Je weniger die Psychotherapeutin, die ihre Sympathie stets neu versicherte, ihr gegenüber greifbar schien, desto schlimmer wurde die Erkrankung. Henriette kündigte in größter Sorge an, das therapeutische Verhältnis in Gefahr zu bringen, weil die Unzufriedenheit mit der Behandlung, mit sich selbst und mit der Atmosphäre wuchs. Sie bat um Hilfe. Methoden, mit denen sie sich selbst in der Erkrankung hätte helfen können, wurden ihr hingegen nicht vermittelt. Henriette stand ihrem depressiven inneren Erleben machtlos gegenüber.
Es ging schief. Als viele Wochen später deutlich wurde, dass die Behandelnde, der sie vertraute und die ihr eiserne Verschwiegenheit versichert hatte, sensible Inhalte der Sitzungen an andere herausgegeben hatte, von denen diese auf anderem Wege keine Kenntnis haben konnten, kam es zu dem befürchteten Zusammenstoß. Henriettes sensibelstes Empfinden war derart tief verletzt, dass sie implodierte und explodierte, weil sie sich zutiefst betrogen fühlte. Es fühlte sich entsetzlich an. Das hier war ein Missbrauch.
Die Psychotherapeutin drohte Henriette Konsequenzen an. Sie müsse sich sehr überlegen, ob die Basis der gemeinsamen Zusammenarbeit jetzt noch gegeben sei, hatte sie ihr an den Kopf geworfen. Aber noch sei ja nicht morgen, hatte sie dann noch hinzugefügt und Henriette im Unklaren gelassen, ob und wie es weitergehen würde.
Henriette war über diese Worte fassungslos gewesen, schließlich hatte sie den Missbrauch des Vertrauens nicht begangen, sondern die Behandelnde und außerdem war sie der kranke Mensch, der behandelt werden sollte und seine Ängste frühzeitig ganz offen angesprochen hatte.
Erst viele Wochen später gestand die Therapeutin Henriette den nächsten Psychotherapietermin zu und mitten in der schwersten Krise, die sie der Patientin durch ihr Verhalten selbst verursacht hatte und in der Wiederholung dessen, was nicht mehr passieren sollte, beendete sie fristlos die Behandlung, obwohl sie Henriettes Bitte um Entschuldigung angenommen hatte.
Mit den Worten, das sei hier heute ihre letzte Sitzung, hatte Henriette in der Phase größter Hilfsbedürftigkeit zu akzeptieren, dass ihre Therapie vorzeitig abgebrochen wurde, ohne dass sie eine Hilfestellung zur Handhabung der mittlerweile schweren Depression erhalten hatte.
Verzweifelt versuchte sie, wenigstens den menschlichen Aspekt zu retten, den die Psychotherapeutin als freundschaftlich bezeichnet hatte. Doch die bis dahin warmherzige Therapeutin begegnete ihr kühl. Sie verstehe nicht, was die Patientin meine, man habe hier nur eine Therapie gemacht.
Henriettes Welt fiel in ein Trauma. Es war erneut geschehen, was sie durch Psychotherapie verhindern wollte; es war erneut eine Verbindung kaputtgegangen, die freundschaftlich bezeichnet worden war und die bis in die Zeit nach Beendigung der Therapie hatte halten sollen, um die Freundschaft auszubauen und zu pflegen.
Unfähig, sich aus der zwischenmenschlichen Verbindung zu lösen, die so sehr eng gewesen war, stand Henriette vor den Trümmern der Behandlung. Vergeblich begann sie, gegen die Wände ihres inneren Gefängnisses anzulaufen, um sich aus dem Trauma zu befreien. So konnte es nicht bleiben. So abrupt durfte die Verbindung nicht beendet sein. Es musste einen Weg geben, trotz aller Fehler der Behandlung wenigstens die Menschlichkeit des Miteinanders noch zu retten.
Deshalb griff sie dankbar den Vorschlag ihrer Krankenkasse auf, die Psychotherapeutin noch einmal anzuschreiben. Sie bat um Hilfe, einen Weg zu finden, den sie gehen könne, damit ihre Behandlung nicht nur einfach abgebrochen sei.
Doch die Angeschriebene begegnete der ehemaligen Patientin mit Ablehnung und Härte. Das Trauma wurde größer, je deutlicher die Ablehnung durch den so erfrischend natürlich erlebten Menschen wurde. „Haben Sie geglaubt, ich bin privat so eine Zicke?“ hatte die Behandelnde Henriette einmal in der Therapie gefragt und sympathisch glockenhell gelacht. Für die verzweifelten Bemühungen um Erklärung und Aufklärung und für die ehrlichen Versuche um eine Rettung des Kontakts, der Nähe und der Freundschaft, von der die Psychotherapeutin selbst gesprochen hatte, zeigte diese Henriette kurz entschlossen an. Sie verstand die Welt nicht mehr.
Traumatisiert, wie Henriette war, konnte sie jetzt nicht mehr loslassen. Hier stimmte etwas nicht. Sie versuchte, den Menschen zu ergründen, der hinter der Behandlung stand. Sie wollte wissen, wo die Nähe war, die unzweifelhaft bestanden hatte. Das Trauma aber löste sich nicht auf, es wurde immer schlimmer, als sich Henriette mit der Behandlungsstätte und der Therapieform auseinandersetzte, die die Psychotherapeutin angewendet hatte, ohne sie darüber aufzuklären. Das Ergebnis war ernüchternd:
Die Psychotherapeutin war gar keine Psychotherapeutin, sondern Auszubildende gewesen, ohne es ihr mitzuteilen; Henriette hatte bei ihr eine Ausbildungstherapie erhalten, ohne zugestimmt zu haben. Und die regelmäßig auf Kassette aufgezeichneten Gespräche hatten nicht der Dokumentation gedient, wie die Therapeutin ihr erklärt hatte, sondern zum Zweck der Ausbildung dem Abhören mit Dritten. Die versicherte Verschwiegenheit hatte nicht bestanden.
Das schlimmste aber war das Therapieverfahren, das angewendet worden war, ohne Henriette aufzuklären. Dieses arbeitete abweichend von der gängigen Behandlung einer Depression. Es setzte ganz bewusst sämtliche Signale zwischenmenschlicher Verständigung zur Gestaltung der Verbindung durch den Therapeuten ein. Henriette hatte glauben sollen, die Behandelnde sei an ihr ausgesprochen interessiert.
Henriette hatte es geglaubt, weil die gesendeten Signale so natürlich wirkten und sie selber ehrlich war, wenn es um Freundschaft ging. Freundschaft war für Henriette, seit sie denken konnte, immer etwas ausgesprochen Kostbares gewesen. Die Natürlichkeit, die Wärme, das so charmante Lächeln, der unkomplizierte Umgang, das alles konnte ganz unmöglich nur gelogen sein.
Doch das menschliche Interesse ihres Gegenübers war ganz offenbar zu keinem Zeitpunkt wirklich echt gewesen. Die neue gute Freundin war nichts anderes, als eine kühl berechnende Behandelnde, die das Manipulieren zwischenmenschlichen Erlebens gut beherrschte und nicht einmal davor zurückschreckte, das eigene Privatleben, vom dem sie Henriette oft erzählt hatte, in die Behandlung einzuflechten, um Beziehung aufzubauen.
Der herausgefundene Betrug an Henriettes sicherer Intuitionen, die über Jahre und Jahrzehnte ihres Lebens gewachsen war, festigte das Trauma. Ihre Seele verbrannte an der Flamme der Freundschaft, die so wunderbar gewärmt hatte. Die Stille der Heiligen Nacht hat Henriettes Herz nie mehr erreichen können.
© Sabine Schemmann, Freie Erzählungen 22. Dezember 2011
Autor:Sabine Schemmann aus Bochum |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.