Wendepunkte

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Er ist weg. Um halb sechs ist er gegangen und als er ging, kam sie. Die beiden gaben sich die Klinke in die Hand, ohne dass ich irgendetwas mitbekommen hätte. Ich war tapfer mit zur Straße hochgegangen und hatte ihn verabschiedet. Er fuhr mit einem Lächeln und winkte. Der Termin stand lange fest. Jetzt war er da. Und sie auch.

Sie wartete im Haus auf mich, als ich zurückkam. Als ich die Haustür öffnete, spürte ich sofort, dass sie anwesend war. Sie hatte sich beeilt. Jetzt nahm sie alles in Beschlag.
Sie hatte sich auf seinen Platz gesetzt.
Sie lümmelte auf unserem Sofa.
Sie kam in die Küche und schaute in den Kühlschrank.
Sie ging durch den Flur hinunter in den Partykeller.
Sie sprang hinauf ins Dachgeschoss, um den PC einzuschalten und kurz die Mails zu checken.
Sie saß an seinem Schreibtisch und lag in seinem Bett.
Sie machte sich so breit, wie es nur ging, um alles, wirklich alles auszufüllen. Auch mein Inneres. Ich konnte nicht verhindern, dass sie in mir schabte und kratzte, bis der Körper rundum wund und schwer war. SIE, die Leere, die die Räume eines Hauses füllte, die ein Mensch verlassen hat.

Als sie noch jünger waren, war ich mir sicher, dass ich sie gut gehen lassen konnte, wenn es soweit war. Das war der Gang der Dinge. Nun war der Gang der Dinge da und hatte unmissverständlich klar gemacht, dass sich das System verändert hatte. Mit 18 war man volljährig. Und der Älteste war seit zwei Tagen 18.
Er durfte Nachbars Wagen nehmen, hatte Koffer und Proviant eingeladen und alles bis ins Kleinste durchgeplant. Jetzt machte er sich auf den Weg, die Freunde abzuholen. Bochum – Passau – Wien! Er fuhr mit einem Lächeln und winkte. Dass SIE seinen Platz einnehmen würde, hatte er nicht bedacht. Es war das einzige, an das er nicht gedacht hatte. Das musste er auch nicht. Es war nicht seine Aufgabe.

Es würde schwer sein, sie wieder loszuwerden. Es würde unglaublich schwer sein, die Leere, die sich im gewachsenen Familiensystem eingenistet hatte, wieder loszuwerden.
Ich lief durch alle Räume, um mich zu überzeugen, dass hier alles noch wie immer war. Nein. Es war nicht wie immer, weil SIE jeden Raum mit Beschlag belegt hatte. Verdammt! Ich würde mich mit dieser Leere auseinandersetzen müssen. Mit der Leere und mit den vielen Formen, die sie entwickeln konnte. Das hier war keine Leere, die befreite. Keine, die aufatmen ließ. Diese Leere drückte mir den Hals zu, als ob sie mich ersticken möchte. Irgendetwas stimmte nicht. Sie drückte zu, als wollte sie etwas aus mir herausquetschen. Sie schaffte es tatsächlich.

Die Erkenntnis war nur ein kleiner, zunächst farbloser Tropfen, der mit der Zeit immer größer und schillernder wurde. Da … wo so ganz plötzlich … Leere war … da war doch … vorher … etwas anderes … gewesen. Da war doch … vorher … Liebe? … Wärme? … Zuneigung? … und Leben! Das konnte ja nicht weg sein. Das war noch irgendwo.

Ich fing an zu kramen. Wo war es hin? Es musste doch irgendwo zu finden sein. Ich musste es dringend wiederfinden, um diese Leere abzufüllen, bis sie sternhagelvoll in der Ecke lag und sich nicht mehr rührte. Wir würden doch mal sehen, wer stärker war: die Leere? Oder die Liebe, die Wärme, die Zuneigung, das Leben und ich? – Vor allem aber: MEIN Leben! MEIN TROPFEN LEBEN, den ich noch leben und gestalten konnte, wie es mir gefiel. Zusammen mit der Liebe, der Wärme und der Zuneigung zu meinen Kindern. Wo immer sie auch sein würden!

Es war einfach unglaublich, wie stark und fest das Band werden konnte, das über all die Jahre zwischen einer Mutter und ihren Kindern wuchs, während man nicht hinsah, weil man wieder einmal alle Hände voll zu tun gehabt hatte.

© Sabine Schemmann, Freie Erzählungen Mai 2015

Anm.: Die Aufnahmen sind bei der Fidena-Aktion Kunst-Piep 2013 in der Bochumer Innenstadt entstanden.

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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