Tod an der Gilsingstraße - Betroffenheit über den menschlichen Kontrollverlust, seine Hintergründe und seine Folgen
Es gibt Situationen im Leben, in denen man Gefahr läuft, eklatante Fehler zu begehen, die nie wieder gut zu machen sind, und es gibt Fälle der Kriminalgeschichte, die aus eben diesem Grund in ganz besonderer Weise anrühren.
Es sind die Fälle, in denen man als Außenstehender von Neuem immer wieder froh ist, nicht Richter oder Rechtsanwalt zu sein und Recht sprechen zu müssen, das kein „Recht“ sein kann.
Es sind die Momente, in denen man in etwa nachvollziehen kann, dass auch Anwälte von Zeit zu Zeit psychologische Hilfe in Anspruch nehmen müssen, weil ihnen die Verteidigung von Tätern oder die Vertretung der Opfer psychisch derart nahe geht, dass ein Abgrenzen aus eigener Kraft nicht möglich ist;
und dass das starre Festhalten an Paragraphen, die Recht und Ordnung regeln, auch eine Stütze sein kann, um emotional nicht völlig abzubauen und an den Hintergründen zu verzweifeln, die eine Tat begleiten und Menschen in ein tiefes Unglück stürzen.
Der Fall der 31-Jährigen, die ihren Liebhaber erstach, ist genau ein solcher. Was sich in Bochum in der Gilsingstraße abgespielt hat, ist bislang noch nicht in allen Einzelheiten klar.
Fakt ist aber, dass sich innerhalb einer Sekunde das Leben nicht nur eines Menschen folgenschwer verändert hat, sondern durch aktives, nicht mehr steuerbares Handeln eines Einzelnen das Leben vieler Dritter einschneidend verändert wurde.
Mit jeder Tat wird das Lebensgefüge und die Lebensperspektive einer Vielzahl an Angehörigen und Freunden aus den Angeln gehoben, weil ein Mensch den neutralen Blickwinkel verloren hat und in inneren Konflikten gefangen war, die nach außen hin nicht immer sichtbar sind.
Das Drama, das sich in der Nacht zum 03.09. in seriöser Wohnlage von Ehrenfeld abgespielt hat, ist ein Drama aus sich selbst heraus. Es beschreibt sich aus dem Zusammenspiel der Ereignisse und der ungewollt Beteiligten, und hier in ganz besonderem Maße aus dem Schicksal des kleinen Jungen, der sein Leben vor wenigen Tagen gerade erst begonnen hat und dazu seine Mutter ganz besonders braucht.
Das zu lesen, zerreißt die Seele jeder Frau, die die Besonderheiten der innigen Beziehung zu einem eigenen Kind und Säugling und den Zauber jedes neuen unschuldigen Lebens nachempfinden kann.
Zurück bleibt hier ein kleines Wesen, dem man noch nichts erklären kann, das aber über die Instinkte spürt, dass sich etwas entscheidendes verändert hat, weil der Geruch der Mutter fehlt, die es für eine emotional stabile Entwicklung in sicherer Geborgenheit benötigt. Ein kleiner Mensch, dessen Leben zu einem Zeitpunkt umgekrempelt wird, in dem er selbst noch nicht begreifen kann, was Leben überhaupt bedeutet.
Zurück bleibt ein Ehemann, der offensichtlich ahnungslos gewesen ist und möglicherweise nicht einmal wirklich sicher sein kann, ob er der Vater eines Kindes ist, das er als seinen Sohn willkommen hieß und dessen Geburt er vielleicht sogar begleitet hat, um den Moment des Eintritts in ein Leben als Familie nicht zu versäumen.
Ein Mensch, der als Arzt für die Nöte seiner Patienten verfügbar sein muss, obwohl ihn seine eigenen erdrücken.
Zurück bleiben in der Regel Großeltern, die in diesem Fall plötzlich nicht sicher wissen können, ob ihr Enkel tatsächlich auch ihr Enkel ist und dieses Kind bereits ins Herz geschlossen haben.
Zurück bleiben in tiefer Ratlosigkeit und Trauer die Eltern des Getöteten, die bislang noch nicht wissen können, ob der kleine Junge vielleicht ihr Enkel ist und sie zwar den Sohn verloren haben, aber ein neues kleines Leben eine Lücke füllen könnte, die Perspektive geben kann.
Eine Tat und viele unfreiwillig Eingebundene. Sie alle stehen in Beziehung zueinander und hinter dieser jungen Frau, die straffällig geworden ist und deren Erleben und Verzweiflung man bei aller Verwerflichkeit und Unzulässigkeit der Tat nicht aus dem Blick verlieren darf, auch wenn ganz Bochum auf sie schaut und sie verurteilt, weil sie getötet hat.
Wer hat sich noch nicht im Nachhinein zutiefst erschreckt, dass sein Verhalten böse hätte enden können, hätte er sich im entscheidenden Moment nicht noch im Griff gehabt.
Wie viele Menschen mag es geben, die sich wünschen, die Uhr zurückdrehen zu dürfen an einen ganz bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens, an dem sich derart viel verändert hat, dass ihre Welt unaufhaltbar in ein Trauma schlitterte.
Die junge Frau hat unbedacht dafür gesorgt, dass sie ihre Mutterrolle für ihr Kind nicht leben kann, weil sie aus irgend einem Grund nicht mehr zurecht kam und diesen folgenschweren Fehler machte, den nicht einmal die Anwesenheit eines anrührend hilfsbedürftig kleinen Wesens verhindern konnte, das sie gerade erst geboren hatte.
Sie wird die entscheidenden Entwicklungsschritte ihre Kindes nicht verfolgen können, geschweige denn noch Einfluss darauf nehmen können, in wessen Obhut es gegeben wird.
Wochenbettdepressionen und die gespürte Überforderung, mit einer plötzlich auf Dauer völlig veränderten Lebenssituation als festgefügte Familie adäquat umgehen zu können, die die Geburt eines Kindes mit sich bringt, mögen eine Rolle spielen. Das können nur die Vernehmungen ergeben.
Es ist erneut ein Fall, der sehr bedrückt, weil er die menschlichen Schwächen und die entscheidende Bedeutung und Zerbrechlichkeit des Augenblicks so deutlich werden lässt und einfach nur entsetzlich ratlos stimmt, weil es nie möglich sein wird, rechtzeitig aufzufangen, um schlimme Handlungen zu verhindern, die dem Leben aller von einer Tat Betroffenen eine einschneidende Wendung aufdrückt und selbst den Täter zu seinem eigenen Opfer werden lässt.
Autor:Sabine Schemmann aus Bochum |
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