Klinik-Ulla oder die Zerbrechlichkeit der Freundschaft
~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~
„Hallo Ulla“, begrüßte Simone mit vorsichtiger Zurückhaltung die junge Frau, die aus dem Auto ausgestiegen war, um auf ihre Haustür zuzugehen. Sie freute sich, sie doch noch anzutreffen. Auf ihr Klingeln hin hatte sie nicht aufgemacht, so dass sie bereits angenommen hatte, die Fahrt zur Nachbarstadt sei ganz umsonst gewesen.
Abgesehen davon, dass sie in der kleinen Klinik noch etwas holen musste, in der sie sich vor Monaten in nur fünf gemeinsamen Behandlungstagen miteinander angefreundet hatten, wollte sie vor allem nach ihr sehen. Nach der Klinik-Ulla. Denn irgendetwas stimmte nicht, das spürte sie.
Ulla hatte sich auf ihre Grüße per Mail und Postkarte plötzlich irgendwann nicht mehr gemeldet, weshalb sie sich sehr große Sorgen um die Mitpatientin machte. Vielleicht ging es ihr wieder derart schlecht, dass sie erneut in der Behandlung war.
Aber Ulla war ganz offensichtlich nicht in einer Klinik.
„Ulla“, sprach Simone die Freundin an, „ich mache mir ziemliche Sorgen und dachte, ich schaue mal nach Dir. Ich wollte heute sowieso mal ganz kurz in die Klinik, da lag es auf dem Weg.“
„Ja?“ fragte Ulla unbehaglich und schaute erkennbar scheu in Simones Richtung. „Warum denn?“
Simone wurde traurig. Sie ahnte, dass tatsächlich etwas nicht mehr stimmte. Ullas ganze Körperhaltung drückte Unbehagen und Abwehr aus. Sie schien innerlich vor ihr auf der Flucht zu sein.
„Ich habe Dir so oft geschrieben. Du hast nie reagiert. Hast Du denn meine Grüße nicht bekommen?“, fragte Simone mit offener Freundlichkeit und hatte jetzt schon Angst vor Ulla Antwort.
„Doch, schon“, antwortete die andere sehr leise. „Aber ich wollte das nicht mehr.“ Ulla sprach noch immer in scheu geduckter Haltung. Sie schaute Simone nur flüchtig von der Seite an.
Diese stand wie festgenagelt auf dem Gehweg an der Grundstücksgrenze.
“Möchtest Du denn keinen Kontakt mehr zu mir haben?“ wollte Simone wissen.
„Nein, eigentlich lieber nicht.“ Ulla wich noch immer aus.
„Würdest Du mir sagen, warum Du den Kontakt beenden möchtest? Habe ich denn irgendetwas falsch gemacht? Kann ich mich für irgendwas entschuldigen? Ich würde das dann gerne tun.“
Simone gab nicht auf, obwohl sie bereits ahnte, dass es mit der Klinik zusammen hängen würde.
„Nein, es war nur alles irgendwie zu viel damals. Es geht mir auch im Augenblick nicht gut“, gab Klinik-Ulla vage an.
Für Simone aber reichte das. Schon wieder war die verdammte Klinik schuld und diese eine Psychologin.
Sie würde der Freundin so gerne nochmal sagen, dass sie keine Schuld an irgendetwas hatte. Es gab nichts, was sie sich vorzuwerfen hatte. Klinik-Ulla hatte keine Schuld. Aber es war deutlich, dass es nichts mehr zu sagen gab.
Was Simone ihr aus voller Überzeugung gern vermitteln wollte, würde Ulla nicht erreichen können. Sie hatte das Gefühl der Schuld Simone gegenüber viel zu tief in sich verankert.
Sie wünschte Ulla alles Gute, bedeutete der Freundin, sie sei trotzdem jederzeit für sie erreichbar und immer für sie da, wenn sie Hilfe brauchte, und ging zurück zum Auto. Sie setzte sich hinein und weinte.
Diese Klinik wusste alles zu zerstören, selbst noch nach vielen Monaten. Alles machte diese Klinik ihr kaputt. Alles, was an Kontakten neu entstanden war, verstand sie sicher zu vernichten. Und das alles wegen dieser Psychologin, deren Ruf sie schützen wollten, um sich selbst zu schützen; einer Psychologin, von der bekannt geworden war, dass sie das Vertrauen von Simone schwer missbraucht hatte. Sie hatte ihre Schweigepflicht verletzt, das war Simone in aller Deutlichkeit bewusst geworden und das war letztlich auch den Mitarbeitern dieser Klinik klar.
Mit dieser Psychologin hatte Klinik-Ulla aber nichts zu tun. Sie wusste zwar um diese Schweigepflichtgeschichte und dass es Simone deshalb ganz entsetzlich schlecht gegangen war, aber Ulla fühlte sich an einer anderen Sache schuldig. An der Sache mit der Krankenpflegerin, die dazu geführt hatte, dass Simone die Klinik zu den Treffen der Patienten jetzt nicht mehr betreten sollte, die allen offen standen.
Das Gefühl von Schuld war Klinik-Ulla auch nicht auszureden. Ulla war nicht schuld. Ulla hatte mutig angesprochen, was für sie selbst nicht tragbar war, und Simone hatte gehen müssen, damit eine anthroposophisch ausgerichtete Tagesklinik für Psychiatrie und Psychotherapie ihr Ansehen nicht verlor.
Das aber waren zweierlei Dinge, die die Klinik psychologisch ganz geschickt zu drehen wusste, so dass Simone zunächst glaubte, selber daran schuld zu sein, dass sie nicht mehr kommen durfte.
Gedeckt wurde damit jedoch letztlich nur das schädigende Vorgehen der Psychologin Simone gegenüber. Und Simone wusste nur einfach viel zu viel von dem, was andere nicht wissen sollten. Mit diesem Wissen war sie ein Störenfried zwischen den Patienten, die an eine aufrichtige Behandlungswelt der Ärzte und der Psychologen glauben sollten.
An diesem trüben Novembertag vor einem halben Jahr, um den es dabei ging, hatte Simone hemmungslos geweint. Sie war zum Singen in der kleinen Klinik, aus der sie Wochen vorher entlassen worden war, und hatte große Angst davor gehabt, die Psychologin könne ihr am Nachmittag in ihrer Praxis erklären, die Verlängerung der ambulanten Behandlung nicht mehr durchzuführen, weil sie auf den Vertrauensmissbrauch so maßlos wütend reagiert hatte.
Simone aber brauchte die Behandlung dringend, die bereits genehmigt war. Sie in dieser Phase abzubrechen, käme einem Todesurteil gleich.
Sie stand im Kreis der Mitpatienten, die ehrlich Anteil nahmen, weil sie die spezielle Problematik der Verbindung zu dieser Psychologin kannten. Die Krankenpflegerin der Klinik stand dabei und schaute Simone mit ernstem Ausdruck an. Dann ging sie weg und überließ Simone mit ihrer Verzweiflung den anderen Patienten.
Klinik-Ulla hatte das gesehen und war mehr als fassungslos darüber, dass die Pflegerin so einfach weggegangen war und Simone nicht geholfen hatte. Das sprach sie in der Gruppensitzung an, die die Pflegerin zusammen mit dem Oberarzt betreute. Die unterlassene Hilfe in der Not hatte sie nicht losgelassen.
Die Krankenpflegerin aber hatte darauf nur gesagt, es sei nicht ihre Sache, auf den Menschen zuzugehen, dem es nicht gut ginge. Dieser müsse selber wissen, ob er sich an die Therapeuten wenden wolle. Diese Haltung hatte bei Ulla zusätzlich noch Fassungslosigkeit erzeugt.
Am Tag darauf hatte Simone in traumatisiertem Erleben die anthroposophische Tagesklinik aufgesucht, um zu besprechen, ob sie nochmal aufgenommen werden könne. Denn die Psychologin hatte am Nachmittag des Vortags die Behandlung sogar unerwartet fristlos abgebrochen, Simone aber brauchte dringend Hilfe, weil sie nicht mehr konnte.
Der Oberarzt der Klinik hatte ihr jedoch erklärt, es ginge nicht, sie wieder aufzunehmen. Sie solle diese Klinik ab sofort nicht mehr betreten, auch zu den offenen Treffen nicht. Sie sei als ehemalige Patientin Thema der Gruppensitzung gewesen, sie belaste die Patienten mit ihrer Problematik. Das ginge keinesfalls.
Simone musste gehen, obwohl sie sich nicht mehr zu helfen wusste. Der Kontakt zu den ihr wichtigen Patienten, der sie stützte, und der Kontakt zur warmen Atmosphäre dieser kleinen familiären Klinik wurden ihr beschnitten. Der anthroposophische Gedanke der Klinik und der Mitarbeiter kannte keine Gnade.
Klinik-Ulla registrierte den Verweis und bezog aus ihm die Schuld. Hätte sie den Mund gehalten, dann hätte der Oberarzt Simone der Klinik nicht verwiesen, so glaubte Ulla.
Und Simone, die den wahren Hintergrund nicht kannte, trug verzweifelt an der Schuld, andere zu belasten, nur weil es ihr mit dem ihr auferlegten Therapieabbruch und der Verbindung zu ihrer Psychologin so entsetzlich schlecht ging und sie sich nicht zusammenreißen konnte.
Sie war der festen Überzeugung, selber daran schuld zu sein, dass sie die anderen nicht mehr sehen durfte und das Singen und das Kaffeetrinken, das so wichtig für sie war, ab sofort zu meiden hatte.
Simone litt schwer unter der gefühlten Einsamkeit und stand vor dem Abgrund.
Bis Klinik-Ulla ihren Mut zusammen nahm und Simone anrief, um zu beichten, dass sie sich schuldig fühlte und zu erzählen, was in der Klinik eigentlich gewesen war.
Simone war völlig fassungslos angesichts der Hintergründe, die zur Begründung des Verweises geführt hatten, und war Ulla ausgesprochen dankbar für den Mut, sich mitzuteilen. Das hatte sie ihr auch gesagt. Weil sie nur so das üble Spiel der kleinen Klinik nachvollziehen konnte, die sich nach außen hin so menschenfreundlich präsentierte.
Sah so der anthroposophische Behandlungsansatz aus?, fragte sich Simone. Zu wem war diese Klinik menschenfreundlich? Bezog sich der anthroposophische Gedanke nur auf den Umgang der dort angestellten Therapeuten miteinander? Deren Fehlern und Unterlassungen stand man menschenfreundlich gegenüber. Den Patienten, der in Not war, ließ man fallen, wenn es ungemütlich wurde. Simone war vollständig geplättet.
Es war psychologisch sehr geschickt, den depressiv erkrankten Menschen für schuldig zu erklären, da er ohnehin dazu tendierte, die Schuld grundsätzlich bei sich selbst zu suchen.
Er würde das schon glauben und sich unzulänglich fühlen, so wie er sich Zeit seines Lebens schon immer unzulänglich fühlte.
Simone trug schwer an der Last ihrer Erfahrungen. Gesund konnte sie mit diesem Wissen nicht mehr werden, das wusste sie. Aber sie hatte sich gefreut, wenigstens dann und wann zu Klinik-Ulla noch Kontakt zu haben. Sie war ihr geblieben. Doch auch das war jetzt vorbei. Es würde sich nicht reparieren lassen.
Sie konnte fühlen, wie es in der Freundin aussah, die von der Klinik überzeugt gewesen war. Im Gegensatz zu ihr selber, die sie in dieser ihr so wichtigen Einrichtung nie wieder behandelt werden würde, musste Ulla sie auch künftig nutzen können, wenn es für sie wieder kritisch wurde. An dem schwer angeschlagenen Bild der anthroposophischen Einrichtung würde Klinik-Ulla auch weiterhin schwer zu verdauen haben.
Simone wischte die letzten Tränen weg, startete das Auto und fuhr zurück nach Hause. Sie würde damit leben müssen, ihre Freunde aus der Klinik für immer zu verlieren, weil sie mit ihrer Schädigung und ihrer Wut durch die Maschen der psychiatrischen Behandlung fiel, in der für kritische Patienten kein Platz vorhanden war.
Die anderen wohnten alle viel zu weit verstreut, als dass sie die Gruppe, die sie zusammen bildeten, zeitnah treffen konnte. Das war nur in dieser kleinen Klinik möglich, die das genau nicht wollte: dass Simone von dem redete, was im Umgang mit Patienten nicht in Ordnung war, weil es sie und ihre Rechte tief verletzte.
Der anthroposophische Gedanke, der ihr den Mut gegeben hatte, sich auf eine Psychiatriebehandlung einzulassen, hatte viel zerstört.
© Sabine Schemmann, Freie Erzählungen März 2012
Anmerkung der Autorin: Die Fotos dieser wunderbaren Mosaikfenster stammen aus dem Tagungsraum der LWL-Klinik Bochum. Ein Zusammenhang zwischen dieser Klinik und dem Beitrag besteht nicht. Auch die Namen der Personen sind frei gewählt.
Autor:Sabine Schemmann aus Bochum |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.