Erschütterte Freundschaft - Gedanken zur Heiligen Nacht

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Liebe Freundin,

Heiligabend war ich in der Kirche,
im Gottesdienst zur Christnacht um 23.00 Uhr.
Jahrelang hatte ich mir vorgenommen,
ihn einmal zu besuchen.
Immer war ich zu erschöpft.
In diesem Jahr aber war ich endlich dort.
Ich bin ganz bewusst zu Fuß gegangen,
durch die Stille und die Dunkelheit.

Die Feierlichkeit des Heiligen Abends
hing spürbar in der Luft.
Kaum ein Mensch war auf der Straße.
Es war so friedlich.
Auch in mir war alles friedlich. Die Einsamkeit um mich herum erfüllte mich mit tiefer Ruhe.

Es war ungewöhnlich mild auf meinem Weg zur Kirche,
der Regen hatte aufgehört,
es ging ein leichter Wind und ich fühlte mich ganz eigenartig geborgen in der Ruhe dieser Nacht.
Zum ersten Mal seit langem war ich ganz bei mir.
Ich war wieder ICH, ich spürte mich und das war sehr erlösend.
Vielleicht würde man im Leben manchmal anders handeln,
wenn da mehr Ruhe wäre und mehr Zeit, sich zu besinnen.

Die Atmosphäre in der Kirche war sehr stimmungsvoll.
Allein schon dieses imposante Läuten der Glocken in der Dunkelheit war sehr ergreifend,
es läutete zurück bis ganz tief in die Kindheit,
in die Geborgenheit der Unschuld und in die Zeit der befreienden Gewissheit,
dass Schlimmes wieder sein gut würde, weil die Mutter es so sagte.
Dann das gedämpfte Licht,
der hohe Weihnachtsbaum mit den vielen kleinen Lichtern,
der Adventskranz in der Mitte des halbrunden Kirchenraumes,
der ein Miteinander der Gottesdienstbesucher möglich macht
und diese Stille, bis Orgel und Flöte begannen, die tief empfundene Stille zu durchbrechen.

Ich habe den reinen Klängen der Instrumente zugehört, bis die Gedanken anfingen, zu wandern.
Sie ließen sich nicht aufhalten, sie wurden fortgesogen.
Zu den Ereignissen des Jahres, das nun fast beendet ist,
und natürlich auch zu Dir.
Ich habe mich gefragt, wie DU Weihnachten verbringst
und ob Du wohl auch in der Kirche warst?
Mit Deinem Mann zusammen oder auch allein.
Vielleicht sogar mit einer Freundin oder einer Nachbarin.

Du standest wieder sichtbar vor mir
mit Deiner erfrischend jugendlichen Art,
mit Deiner Eleganz
und Deiner Freundlichkeit.
Ein liebenswerter, starker Mensch,
unantastbar
und für mich unerreichbar.
Ich werde niemals Deine Freundin sein dürfen,
weil DU bestimmst, wer Freund sein darf.
Und ich genüge nicht.
Es reichte nicht, dass ich Dich mochte,
sich unsere Interessen überschnitten
und ich auch Dir sympathisch war.
Ich bin nicht brav gewesen, habe kritisiert, statt stillzuhalten.
Ich war nicht so, wie DU mich haben und mich formen wolltest.
Als es an der Zeit war, endlich auch von Dir etwas zu fordern,
damit ich mich aktiv entwickeln konnte, hat Dir das missfallen.

Ich darf nicht Deine Freundin sein. Aber in der Kirche habe ich ganz fest an Dich gedacht.
Als alle Kerzen in den Händen der Besucher angezündet waren und wir an all die Menschen denken durften,
die wir Gott besonders anvertrauen möchten.
Dazu gehörte für mich in erster Linie natürlich die Familie.
Dazu gehörtest aber auch gerade DU.
Ich habe Dich in die Gedanken eingeschlossen, weil Du mir nicht egal bist.
Dich habe ich dem lieben Gott besonders eng ans Herz gelegt,
weil ich nicht mehr weiß, wie ich es richtig mache und ob nicht längst schon alles falsch ist.
Nur er kann wissen, wie es richtig ist und wird es richtig machen.

Wir haben dann gebetet, im Schein der Kerzen, die wir in den Händen hielten:

„Vater unser im Himmel,
geheiligt werde Dein Name,

und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern …“

Dein Gesicht stand noch immer vor mir.

Mache ich mich an Dir schuldig,
weil ich zu einem Anwalt ging,
der für mich die Klage eingereicht hat?
Mache ich mich an Dir schuldig,
wenn ich Dich zur Rechenschaft dafür ziehen muss, dass
ich durch Dein Handeln so schwer krank geworden bin?;
dass ich vier Jahre schwer gelitten habe,
körperlich und seelisch?;
dass das Ausmaß meines Traumas erst nach und nach vollständig sichtbar wurde
und ich wegen dieses Traumas nicht mehr arbeitsfähig war?,
und bis jetzt nicht einmal mehr behandlungsfähig?

Mache ich mich an Dir schuldig,
weil ich Dein berufsethisch sehr fragwürdiges Handeln
und Deine unmoralische Haltung nicht gehorsam schluckte,
wie DU von mir erwartet hast, damit Du Karriere machen konntest,
während ich nicht einmal mehr den Haushalt in den Griff bekam?

Gibt es eine Schuld auf meiner Seite,
für die ich Gott um Verzeihung bitten müsste,
nachdem ich mich bei Dir entschuldigt hatte,
während nicht ein Wort der Entschuldigung über Deine Lippen kam?

Anfangs habe ich gedacht, es sei alles meine Schuld gewesen.
Später aber wurde mir dann deutlich,
dass es zum ersten Mal nicht meine Schuld gewesen ist.
Durch die Berufsordnung war klar geregelt,
dass die Verantwortung allein bei Dir gelegen hat.
Deshalb hast Du offenbar verfügt,
dass ich dann gehen sollte und Du mich nicht mehr sehen wolltest.
Erst dadurch wurde es zu meiner Schuld
und das Gehen müssen wurde meine Strafe, an der ich schwer getragen habe.

… und vergib‘ uns unsere Schuld …

Vielleicht warst Du ja in Deiner Kirche und hast dafür gebetet, dass Dir Gott vergibt.
Ich weiß nicht einmal, ob Du gläubig bist.
Ich kann nicht wissen, ob Dir das alles leid tut oder ob Du einfach skrupellos verdrängt hast,
um weiter so zu handeln, als hätte dieses Handeln nie geschädigt.
Schädigung durch Psychotherapie ist übrigens gar nicht mal so selten.
Hast Du das gewusst?
Oder verdrängst Du dieses Wissen auch?
Um nicht an Dir selbst zweifeln zu müssen und Dein Selbstbild zu verlieren?

… wie auch wir vergeben unseren Schuldigern …

Muss ich Dir vergeben können,
wenn keine Zeichen des Bedauerns
und keine Worte der Entschuldigung von Dir gekommen sind
und Du mir auferlegt hast,
die Last Deines schädigenden Handelns an mir zu ertragen?

Muss ich vergeben können und mache ich mich schuldig,
wenn ich meinem Schuldiger deshalb nicht vergeben kann?
Muss eine an der Seele Vergewaltigte ihrem Vergewaltiger verzeihen können?
Lieber Gott, es ist so schwer, Dich und die Gesetze dieses Lebens zu verstehen.

Liebe Freundin, ich hätte Dir verzeihen können,
… hätte ich gewusst, dass es Dir leid tut,
… hätte ich mich offen dazu äußern dürfen, was den Menschen schädigt
und hätte ich bei Dir, deren Beruf es ist, lebenslang zu lernen, um andere nicht auch zu schädigen,
Gehör gefunden.

Ich hätte Dir verzeihen können,
… hätten wir beide zwanglos darüber reden können
und hätte ich gewusst, dass Du Deinen Fehlern nachgegangen bist, um sie künftig zu vermeiden.

Mit der Vergebung tue ich mich deshalb schwer.
Aus diesem Grund jetzt auch die Klage.
Ein ganzes Jahr lang habe ich noch einmal intensiv darüber nachgedacht.
Ich kann die Klage vor mir selbst vertreten und habe mir nichts vorzuwerfen.
Ich fühle mich nicht schuldig und muss nicht um Vergebung bitten.
Ich bin durch mein Trauma stark geworden.
Ich fürchte mich nicht mehr, weil es nicht mehr schlimmer werden kann.
Ich bin mir endlich wieder selber etwas wert geworden.
Das war ja eigentlich Dein Ziel!
Und das ist paradox - nicht wahr?
Dass sich meine Stärke dann doch noch gegen Dich gerichtet hat.
Noch gerade eben rechtzeitig vor Ablauf der Verjährung.

Zu Weihnachten habe ich Dir einen langen Brief geschrieben.
In ihm habe ich meine Trauer und meine Zerrissenheit des Handelns gegen Dich verarbeitet.
Im Gegensatz zu den anderen kurzen und menschlich nett gemeinten Weihnachtsgrüßen der letzten Jahre
habe ich den Brief nicht abgeschickt.
Er liegt in meiner Schublade.
Es soll sehr heilsam sein, zu schreiben.
Vielleicht kann es ja helfen, zu verarbeiten und zu verzeihen.

Irgendwann einmal …

Simone

© Sabine Schemmann, Freie Erzählungen, Dezember 2012

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Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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