Erschütterte Freundschaft - Bündnis des Vertrauens

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Liebe Freundin,

eben sah ich aus dem Fenster, weil ich draußen Stimmen hörte. Es dauerte ein wenig, bis sie sich dem Gesichtsfeld meines Küchenfensters näherten, an dem der ansteigende schmale Fußweg zwischen Hauptstraße und Wohnstraße vorbeiführt. Dann aber sah ich sie.
Wegen ihres starken Buckels ging sie langsam und extrem gebeugt, in der rechten Hand diente ihr ein Krückstock als eher wackelige Stütze, an ihrer linken Hand ging eine andere Frau.

Ich bin kein Mensch, der aus dem Fenster sieht, um andere zu beobachten. Jetzt aber stand ich da und schaute und schämte mich kein bisschen, denn dieser Anblick fesselte und rührte mich zutiefst. Ich wusste, wer sie war, wo sie herkam und wohin sie wollte und wusste deshalb, wie viel Weg noch vor ihr lag; ein Weg, den sie in einer Art bewältigte, die mit dem Wort „Geschwindigkeit“ vollkommen falsch beschrieben wäre.

Dass ich sie lange nicht gesehen hatte und deshalb sehr erschüttert war über die extrem gebeugte Haltung, war nur ein Aspekt der Szene, die mich am Fenster hielt. Ich kam von ihr nicht los, weil ich noch etwas anderes sah, das man nur ganz selten sieht: ich sah Vertrauen. Aus der linken Hand der weißhaarigen alten Dame, die kaum vorwärts kam, sprach tiefstes Vertrauen in ihre Begleiterin. Ich wurde hier am Küchenfenster im ersten Stock unseres Hauses Zeuge von einem wunderbaren, durch Achtung, Vertrauen und Geduld geprägten Bündnis zweier Menschen ganz verschiedenen Alters.

Die Begleiterin, die sichtbar um Jahrzehnte jünger als die alte Dame war und etwa unser Alter haben mochte, hielt sie an der Hand wie ein kleines Kind, denn sie ging ihr durch die starke Beugung ihres Rückens nur bis knapp zur Hüfte. Sie schritt mit ihr so langsam, wie man überhaupt nur gehen konnte.
Fuß für Fuß setzte sie geduldig mit ihr zusammen auf das holperige Kopfsteinpflaster und wie sie da so zueinander standen, erinnerte es an die ersten vorsichtigen Gehversuche eines Kleinkindes, das eben erst begonnen hat, sich aufzurichten, um das Laufen zu erlernen.

Mühsam nur, Schritt für Schritt, bewegten sich die beiden Frauen vorwärts, doch trotz der Anstrengung des Gehens und der zu bewältigenden Steigung besaß die kleine Dame noch die Fähigkeit, so kraftvoll munter zu erzählen, dass ich es bei geschlossenem Fenster hören konnte.
Ich denke, dass sie das Projekt unserer Gemeinde „Zu Hause alt werden“ nutzt und sich begleiten lässt, um noch am kirchlichen Gemeindeleben teilnehmen zu können. Ihre Angehörigen wohnen kilometerweit entfernt in einem anderen Stadtteil und können deshalb keine Stütze sein. Ich weiß das, weil Du mir vor ein paar Jahren mal von ihr erzählt hast. Diese Dame, die am Ende unserer Straße wohnt, ist die Schwiegermutter Deiner Schwester!

Weil sie so langsam gingen, hatte ich viel Zeit, den beiden nachzuschauen. Was mich an diesem Anblick festhielt, war nicht die Tatsache, dass Du durch die Ehe Deiner Schwester entfernt mit ihr verwandt bist. Nein, es war zum einen die Achtung vor der Leistung dieses alten Menschen, der fast am Ende seines Lebens angekommen war und dennoch wie ein Uhrwerk immer weiter lief, obwohl die Batterie erkennbar müde wurde, zum anderen aber der Symbolcharakter dieser Szene:

Auch zwischen uns bestand einmal ein Bündnis des Vertrauens und der Achtung. Es war sogar vertraglich abgesichert, um uns beiden Sicherheit zu geben und ausgerechnet die Schwiegermutter Deiner Schwester führte mir vor Augen, was ein Bündnis wirklich ist, was Vertrauen heißt und dass man es niemals missbrauchen darf.

Das Bild vor unserem Haus war ein Symbol für die Zeit, in der ich Dir vertrauensvoll die Hand gegeben hatte, als ich nicht mehr konnte und meine Schritte schwer und immer schwerer wurden, weil das Leben so beschwerlich wirkte, obwohl ich noch nicht alt war.
In dieser Dir gereichten Hand, die Du bereitwillig ergriffen hattest, lag so viel Vertrauen, wie man einem Menschen nur entgegen bringen konnte. Damals warst Du völlig fremd für mich, ich war Dir nie zuvor begegnet und wäre Dir auch nie begegnet, wäre ich nicht in so seelisch großer Not gewesen. Du solltest meine Hand halten und mich führen, bis ich wieder von alleine laufen konnte und darüber wurdest Du zu einer echten Freundin. Auch Du hast unser Miteinander damals „freundschaftlich“ genannt.

Doch dann hast Du unvermittelt meine Hand losgelassen, mitten auf dem Weg, der noch lange nicht zu Ende war, so dass ich stürzen musste. Du wusstest, dass ich noch nicht laufen konnte und hast sie trotzdem losgelassen. Obwohl ich bat und nach Dir rief, hast Du mich nicht wieder aufgehoben, und als ich da so lag und um mich sah und spürte, dass Du für immer fort warst, da merkte ich, dass Du mich auf den falschen Weg geführt hattest. Es war der Weg zum Abgrund. Vor mir lag eine unendlich tiefe Schlucht.
Der Weg zurück war undurchschaubar dunkel und ich überlegte mehr als einmal, mich hinabzustürzen, weil es absolut undenkbar war, jemals mit der bitteren Erfahrung klarzukommen, dass ich der falschen Hand vertraut hatte. Einer Hand, die das Vertragliche in keiner Weise interessierte und die am Ende nur noch an sich selber dachte.
Du, liebe Freundin, hast mit mir den Weg zum Abgrund eingeschlagen, obwohl Du wusstest, dass er dorthin führen würde und dieses Wissen zerreißt mich heute noch. Vertrauen ist etwas so Wunderbares und Wichtiges im Leben. Wie viel Vertrauen ich in Dich und Deine Ehrlichkeit und Deine Hand legte, werde ich Dir kaum jemals vermitteln können.

Ich habe eine neue Hand gefunden. Viereinhalb lange Jahre, genau 1.604 Tage, habe ich auf diese Hand gewartet. Seit ein paar Wochen hält sie mich. Sie verhindert, dass ich in den Abgrund stürze, sie hört geduldig zu, wenn ich weine und von Dir erzähle, sie bleibt bei mir, wenn die Wut aufsteigt, vor allem aber hilft sie mir, das Laufen wieder zu erlernen; Schritt für Schritt geht sie mit mir, so wie die Begleiterin der Schwiegermutter Deiner Schwester. Und dadurch, dass sie unerschrocken an meiner Seite bleibt und geduldig mit mir übt, gibt sie mir langsam wieder das Gefühl, eines Tages ganz alleine gehen zu können.
Es war nicht leicht, noch einmal eine Hand zu greifen und nicht zu wissen, ob man ihr vertrauen konnte; ob sie wirklich helfen würde, mich vom Abgrund wegzuführen oder ob sie nur vollenden würde, was Du begonnen hast: mir den letzten Stoß zu geben, um mich hinunter zu befördern.
Eintausend-sechshundert-und-vier Tage am Rande eines tiefen Abgrunds … Wolltest Du mich unten liegen sehen?

Die beiden Frauen vor meinem Fenster sind mittlerweile weg. Sie werden wiederkommen, nächsten Mittwoch, wenn wieder Gemeindetreffen ist. Ob wir auch einmal so alt werden und noch so zielstrebig unsere Wege gehen können? Ich konnte nicht so lange warten, ich gehe meinen Weg schon jetzt und auf diesen Weg habe ich Dich mitgenommen, ohne Deine Hand zu halten. Das tun andere für mich, dafür habe ich gesorgt. Sie haben Deine Hand genommen und leiten Dich und bestimmen Deinen Weg zumindest bis zum Ende dieses Jahres. Sie führen Dich zum Abgrund, an dem Du mich zurückgelassen hast. Ich denke nicht, dass sie Dich dort liegenlassen. Zumindest aber solltest Du durch sie begreifen, wie tief DU stürzen könntest.

Auf welche Wege unseres Lebens wir auch immer zurückschauen werden, wenn wir alt sind, Du wirst mich nicht vergessen. Das war mir wichtig, nachdem Du mich einfach zurückgelassen hast.
„Ich bin ein Teil von allen, denen ich begegnet bin“, hat Alfred Lord Tennyson gesagt. Von Dir aber bin ich ein ganz besonders großer Teil geworden.

Simone

© Sabine Schemmann, Freie Erzählungen, Juli 2013

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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