Die Abrechnung
~ * ~ * ~ * ~ Heute habe ich ihr endlich eine geknallt. Es war schon lange fällig. Sie war völlig ahnungslos, sie hat nicht wissen können, dass es passieren würde, denn ich hatte einen Trick benutzt.
Ich stand mitten in der Nacht im Flur des unpersönlich kalten Hauses, in das sie vor einem halben Jahr gezogen ist, zog das Handy aus der Tasche und wählte ihre Nummer. Ihr Telefon klingelte irgendwo ganz in meiner Nähe. Trotz seines melodischen Klingeltons dröhnte es unwirklich laut durch die nächtliche Stille der unbelebten Räume und zerfetzte die Träume der Beiden, die im unteren Geschoss des Hauses schliefen.
Der laute Ton in der bis dahin unschuldigen Friedlichkeit erzeugte tiefes Wohlgefallen. Unten war eine Tür zu hören. Jemand machte Licht. Die leisen Schritte auf den Treppenstufen ließen annehmen, dass sie barfuß unterwegs war, um dem Läuten ein Ende zu bereiten, das ihr die Ruhe raubte.
Wie ärgerlich, dass sich da irgendjemand nicht an die Regeln hielt und die Erholsamkeit des Schlafes störte, den eine Psychologin dringend brauchte, um konzentriert zu arbeiten.
Als sie auf mich zukam, fuhr sie gerädert mit beiden Händen durch das verschlafene Gesicht und strich dann die schwarzen Haare glatt, die sich wirr um ihren Kopf verteilten. Zum ersten Mal war dieser Pagenkopf nicht exakt geglättet. Es tat unendlich gut, sie derart unsortiert in ihrem Schlafanzug zu sehen. Es war fast menschlich rührend.
Als sie auf meiner Höhe war, trat ich entschlossen aus der Nische einen Schritt nach vorne. Das Heben des Armes ging in Sekundenschnelle, meine rechte Hand klatschte mit voller Wucht auf ihre linke Wange, so dass der Kopf zur Seite schoss und ihre Haare flogen.
Durch den Schlaf in ihren Gliedern war sie nicht sicher auf den Beinen. Der Schlag ließ sie das Gleichgewicht verlieren. Aus den weit aufgerissenen Augen sprach irritiert ungläubiges Entsetzen, ein Ausdruck, den ich mir drei Jahre lang auf dem Gesicht gewünscht hatte, aus dem stets diese unerträgliche Allwissenheit und Überlegenheit gesprochen hatte.
Sie geriet ins Wanken und stürzte mit einem Ausruf des Erschreckens der Länge nach rückwärts die Treppe runter, die sie eben erst heraufgekommen war. Es machte nichts. Es machte gar nichts.
Es war ja nur ein Traum. Mehr als drei Jahre lang hatte die Amygdala mit den Fäusten auf den Hippocampus eingedroschen und gedrängt, er müsse endlich etwas tun, sie platze bald. Sie käme mit den vielen Emotionen nicht mehr klar, mit denen sie sich täglich auseinandersetzen müsse, um sie zu bewerten, zu speichern und vegetativ zu verknüpfen.
Ständig müsse sie schädigende Signale an den Menschen senden, mit dem sie untrennbar verbunden sei. Es sei nicht mehr zu ertragen, zu erleben, wie der unter seinem Trauma leide, weil sie überlastet sei und nicht mehr richtig funktionieren könne.
Und mein unter dem emotionalen Dauerstress stark geschrumpfter Hippocampus hatte sich in dem Versuch einer Entlastung durch Verfrachten einer traumatischen Erfahrung aus dem Kurzzeit- in Richtung Langzeitgedächtnis in dieser Nacht endlich etwas Gutes ausgedacht. Etwas, das sehr zufrieden machte. Meine Gehirnstrukturen traten in Aktion.
Als ich erwachte, fühlte ich mich gut. Irgendwie entspannt, gestärkt und selbstsicher. Ich hatte sie erwischt. Zumindest in der Nacht. Der Tag würde schon noch kommen, an dem ich ihr den Schlag versetzen konnte, den diese Frau verdiente. Ich durfte nur den Glauben daran nicht verlieren ...
© Sabine Schemmann, Freie Erzählungen April 2012
Autor:Sabine Schemmann aus Bochum |
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