Der formale Tod

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Der Anruf kam völlig unerwartet. Er hatte an diesem Dienstag wie an jedem anderen Tag auch im Büro gesessen und gearbeitet, als das Gespräch mit den Worten: „Ihre Schwägerin“ zu ihm durchgestellt wurde.
Er erschrak. Seine Schwägerin rief ihn nie an und schon gar nicht im Büro. Warum dann jetzt?
„Jo ist gestorben“, teilte sie ihm mit, nachdem er sie begrüßt hatte. Jo, das war sein Bruder Joachim, der Bruder, den er schon seit Jahren nicht gesehen und gesprochen hatte, weil Jo das plötzlich nicht mehr wollte.

Seine Frau und er hatten sich anfänglich ziemlich schwer damit getan, diesen sonderbaren Wunsch zu verstehen. Dass ihre Welten sehr verschieden waren, musste schließlich kein Grund dafür sein, dass Geschwister sich so voneinander trennten, so als wären sie sich nie begegnet. Von ihrer Seite aus hatte es jedenfalls nichts gegeben, das auf Unstimmigkeiten schließen ließ. Weshalb sollte man also nicht von Zeit zu Zeit voneinander hören oder sich besuchen? Deshalb saß man sich doch nicht gegenseitig auf dem Schoss. Jo und seine Frau hatten ohnehin schon viele Jahre lang knapp 120 km weit von ihnen weg gewohnt, da sah man sich allein aus diesem Grund schon eher selten.

Wirklich verstanden hatten sie das damals beide nicht. Sie akzeptierten aber das Bedürfnis nach kompletter Lossagung aus der leiblichen Familie. Schließlich konnte jeder frei entscheiden, sich sein Leben so zu gestalten, wie er es für richtig hielt und man musste andere ohne Groll gehen lassen können. Sie hatten ihm zwischendurch noch ein, zwei Mal angeboten, trotzdem für ihn da zu sein, sollte er irgendwann ihre Hilfe brauchen oder mit ihnen sprechen wollen. Dann riss der Kontakt zueinander wie gewünscht ab. Jo verschwand in der Anonymität seiner selbst gewählten Abgeschiedenheit.

Sie hatten oft an ihn gedacht, hatten sich gefragt, wie es ihm ging, weil in den letzten Gesprächen durchgesickert war, dass Jo offenbar krank war. Sie waren immer wieder traurig darüber gewesen, dass sie den beiden ihre Offenheit und ihr Verständnis für körperliche Einschränkungen durch leidvolle Krankheiten nicht vermitteln konnten. Gerade ihnen gegenüber musste wirklich niemand so tun, als sei das Leben ein Vergnügungspark. Schließlich war doch seine Frau selber nicht gesund und konnte sich gerade deshalb ausreichend empathisch in die Lage anderer versetzen und ihnen ihre Schwächen zugestehen. Schwächen machten Menschen menschlich. Sie hätten gern verstanden, was Jo bewegte. Doch Jo wollte offenbar genau das nicht. Vielleicht hielt er es nicht für möglich, dass man sich wertfrei und verständnisvoll in ihn hineinfühlen konnte.
Vielleicht änderte sich seine Meinung auch wieder und das Bedürfnis nach Austausch und Familie kam zurück, hofften sie, wenn sie wieder einmal an ihn dachten. Irgendwann einmal. Vielleicht. Doch es kam nicht zurück. Stattdessen kam der Anruf. Jo war tot.

Er weinte. Die Mitteilung zerriss ihn. Sie zerriss seine Vergangenheit, seine Gegenwart und seine Zukunft. Sie zerriss seinen Stolz auf den großen Bruder, den er so oft gespürt hatte, als er noch ein kleiner Junge und sein Bruder schon so groß gewesen war. Sie zerriss sein mühsam zusammengehaltenes Verständnis für die Entscheidung seines Bruders, nichts mehr mit ihm und seiner Frau und seinen drei Kindern zu tun haben zu wollen.
Sie zerriss seine Hoffnung, dass es sich eines Tages wieder ändern würde und sie sich wieder treffen konnten, um einander zu erzählen, was sie in den parallel zueinander verstrichenen Jahren erlebt hatten.

Es gab kein „später“ mehr. Das „Später“ war zu einem „Jetzt“ geworden und dieses „Jetzt“ verfügte erst den wahren Schnitt; den tatsächlichen, den letzten Schnitt. Einen Schnitt, der noch weitaus endgültiger war, als jener Schnitt, denn sein Bruder mit dem Willen zum Leben in der Abgeschiedenheit verfügt hatte. Nun hieß es endgültig Abschied nehmen; von seinen Bruder und von seiner Hoffnung auf das „Später“. Warum Jo, hast Du uns nie Gelegenheit gegeben, Dich und Deinen Schritt zu verstehen und uns mit Dir zusammen über diesen Schritt auszutauschen?

Es gab keinen Abschied. Tag um Tag wartete er auf eine Anzeige und auf eine Nachricht über den Zeitpunkt der Beerdigung des Bruders. Seine Schwägerin erreichte er erst eine Woche später wieder. Sie teilte ihm mit, dass es keine Beisetzung geben würde. Auch eine Trauerfeier nicht. Jo hatte sich gewünscht, verbrannt zu werden. Seine Asche sollte von ihr in einem Waldstück verstreut werden, in dem sie beide oft gewesen waren. Sie wusste, wo sie ihn suchen konnte.
Er aber hatte keinen Ort zum Trauern. Für ihn würde es keinen Platz geben, an dem er seinem Bruder nahe sein konnte, um sich gedanklich noch einmal auf ihn einzulassen, Erinnerungen zuzulassen und sich in Frieden zu verabschieden. Sein Bruder war einfach nicht mehr da. Und mit ihm der Schwager seiner Frau, der Pate seines Sohnes und der Onkel seiner beiden Töchter. Weg. Formlos verschwunden. Aufgelöst im Nebel des Nichts.

Möglicherweise würde ihm der Notar noch schreiben, hatte die Schwägerin gesagt. Was sollte er ihm mitteilen? Vermutlich würde er nur rein formal bestätigen, was er doch nun wusste: dass sein Bruder tot war; sein großer Bruder, sein ganzer Stolz der Kinder- und der Jugendtage. Ein rein formaler Tod. Er hatte ihn zu akzeptieren.

Lebe wohl Jo und finde Deinen Frieden!

© Sabine Schemmann, Freie Erzählungen, Mai 2014

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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