Dein bisschen Leben…

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Komm, gib‘ Dir einen Ruck, versuchte ich mir selbst gut zuzureden. Irgendwann muss es ja sein, warum denn dann nicht jetzt? Jetzt gleich?
Ich sah ihn an, wie er da stand.
Stumm und verlassen. 
Seit ein paar Tagen schon;
seit wir ihn da abgestellt hatten.
Einfach mitten in den kleinen Raum hinein.
Erst einmal dort hin, weil alles viel zu viel gewesen war.
Zu viel auf einmal.
Überfordernd.
Diese Enge der Ereignisse, die im Kopf noch keinen Platz gefunden hatten.
Seitdem stand er da. Eine in sich selbst verschlossene Tatsache, die im Weg herumstand und wartete.
Auf Akzeptanz.
Auf Mut.
Auf Entschlossenheit.
Und innere Stärke.

Ich trat näher, zögerte und griff nach dem Karton. Wusste, was ich darin finden würde, weil ich wusste, was darin verstaut war, und ahnte dennoch nicht, was werden würde; was es mit sich bringen würde, ihn zu öffnen.
Liederlich.
Ineinander gestopft.
Hastig eingepfercht in zwei Kartons, was man im Leben so nicht bei einander lagern würde.
Dinge, die noch blieben, während man schon längst gegangen war. So hatten wir sie vorgefunden, als wir ein letztes Mal den Weg gingen, den wir zuvor so oft gegangen waren.
Einen davon hatten wir uns mitgenommen. Weil es Dinge gab, die nicht so einfach achtlos in den Müll geworfen werden durften; von jenen, denen es trotz aller Fürsorge letztlich nur ums Geld ging. Um Profit. Ums Überleben, wo ohnehin doch niemand überleben konnte.

Jetzt stand ich da und öffnete die Kiste. Blickte auf ein Leben, das vor kurzem noch gelebt worden war. Auf Gegenstände, die den letzten Rest des Daseins ausmachten. Griff mir ein T-Shirt und vergrub mein Gesicht in diesem Stoff, den sie so oft getragen hatte. Atmete das lange Leben von 93 Jahren ein, das uns so sehr vertraut gewesen war. Mit einem Mal war sie noch einmal da. War wieder hier. Bei mir. In diesem Raum, der ihr Nähzimmerchen gewesen war. Der Stoff des T-Shirts hatte sie noch eine Weile für uns aufgehoben; hatte der Vergänglichkeit ein Stückchen von ihr abgetrotzt.
Ich nahm noch einen tiefen Atemzug, um ihren typischen Geruch möglichst lange zu erinnern. Der körpereigene Duft eines Menschen, der uns über all die Jahre ein selbstverständlicher Begleiter war. Dann blickte ich am Stoff vorbei wieder in die Kiste und da sah ich sie. Die kleine rote Handtasche. Der einzig fest umschlossene Ort, in dem die Dinge blieben, die irgendwie dann doch noch von Bedeutung waren:
Die Brille, der ein Bügel fehlte, ohne dass sie jemand reparieren ließ, weil sie selbst mit ihr nicht mehr lesen konnte.
Die Schatulle für das Hörgerät, von dem der Teufel wusste, wo es abgeblieben war und wohin sie es getan hatten.
Die kleine rosa Kerze mit dem Wildrosenduft, die sie nie angezündet hatte, weil man das in einem Heim nicht durfte, an der sie aber immer gern gerochen hatte.
Ein kleiner Spiegel und ein kleiner Schuhanzieher, obwohl sie sich die Schuhe längst schon nicht mehr selber anziehen konnte. Und diese Körpermilch, die ich nicht mehr ertragen konnte, seit ihr Parfüm sie in den Tod begleitet hatte.

In einer kleinen Seitentasche fand ich ein bisschen Geld. Zwei Euro fünfundvierzig, um genau zu sein. Eine kleine Sammlung Münzen, die die Zeit ins Stolpern brachte und Tränen der Verzweiflung und der Trauer in die Augen trieb.
Hast Du das eigentlich gewusst?
Wusstest Du von diesen Münzen?
Dass sie in Deiner Tasche waren und Du noch dieses kleine bisschen Bargeld hattest?
Dein Geld?
Dein Besitz?
Dein kleiner Reichtum?

Es waren nicht die anderen Dinge, es waren diese wenigen Münzen, deren unverbrauchte Existenz die Traurigkeit aus dem Körper in den Raum schwemmte. Ich hockte mich auf den Boden und schluchzte meinen ganzen mitfühlenden Schmerz in meine Hände, die ich auf die Augen drückte. Ein winzig kleines bisschen Geld. Ein klitzekleines bisschen Selbstbestimmung, um noch Mensch zu bleiben und sich einen letzten Rest von Würde zu erhalten.
Es war ihr das Schlimmste überhaupt gewesen, dass sie im Heim kein Bargeld haben sollten, um irgendetwas zu bezahlen, weil sie sich durch das bargeldlose Zahlen der Dinge, die sie gerne kaufen wollte, nicht mehr selbstbestimmt fühlen konnte. Nicht einmal mehr das. Nicht einmal mehr Geld in der Hand zu haben, um etwas zu kaufen und den Pflegern etwas zuzustecken und ihnen eine Freude zu machen, wo kaum noch Freude war. In einem Pflegeheim kam immer etwas weg. Insbesondere Geld, wenn man Geld auf seinem Zimmer hatte. Deshalb sollte möglichst niemand Bargeld haben.
Und jetzt? War da noch ein bisschen Geld und ich wusste nicht einmal, ob sie es überhaupt gewusst hatte.

Die zurückgelassen Münzen schnitten in diesem Augenblick schlimmer in die Seele, als die zurückliegenden Tage des Todes und der Verlusterfahrung. Ich brauchte unbedingt ein Taschentuch.
Ein Taschentuch…
Ich sah fragend um mich.
Ein Taschentuch? Das war doch jetzt wohl irgendwie nicht möglich. In ihrer kleinen Handtasche steckte… noch eine ganze Packung Taschentücher.Taschentücher, die ihr eigentlich ständig fehlten, weil sie sie so oft verlor, wenn sie mit dem Rollstuhl durch die Flure unterwegs war. Weshalb sie immer fragte, ob wir ihr welche mitgebracht hatten.

„Hast Du mir Taschentücher mitgebracht?“ Ich sah sie mit schräg gelegtem Kopf nachdenklich vor uns sitzen und in ihrem Rollstuhl sachte hin und her wippen. Hemmungsloses Schluchzen grub sich in die Dunkelheit der kleinen Tasche.
„Jetzt leihst Du mir mal ein Taschentuch“, sprach ich gerührt in den Raum hinein, als wäre sie irgendwo hier um mich herum, und nahm mir eines aus der Packung, um die vielen Tränen wegzuwischen, während sich die Zeit in der Erinnerung verlor. Dann griff ich ein letztes Mal in diese kleine Tasche.
Ein kleines Buch? Ich staunte. Hatte sie ein solches kleines Buch besessen? Obwohl sie doch schon lange nicht mehr lesen konnte?
„Deine Zeit ist Dir geschenkt“, las ich laut, als ich es umdrehte. Noch einmal hielt irgendwer die Zeit an. Die Luft im Raum wurde klar und dünn und leicht. „Deine Zeit ist Dir geschenkt.“
Wie war es möglich, dass mir ein Mensch, der uns so viele Jahre nahestand, noch etwas derart Wesentliches sagen konnte, obwohl er nicht mehr lebte? Wie war es möglich, dass er ausgerechnet diese Botschaft an uns loswurde? Mitten in der Trauer? An der Schwelle zwischen Leben und Vergänglichkeit?  Ich geriet ins Grübeln:
Wie achtlos gingen wir denn oft mit unserer Zeit um? Mit all der Zeit, die uns gegeben war und niemals wiederkommen würde? Sie hatte Recht. Sie war gegangen und doch war da noch Zeit. Unsere Zeit. Zeit, die uns gehörte. Zeit, die wir genießen konnten, solange wir gesund waren. Zeit, mit der wir achtsam umzugehen hatten, weil sie ein Geschenk war.

Es machte mich betroffen, dass sie mit ihrer ganzen Lebensweisheit von 93 Jahren so eindringlich ermahnte, worauf es wirklich ankam; dass sie an das erinnerte, was wirklich wichtig war und zählte und was man viel zu oft nicht sah, wenn man durchs Leben hetzte und alles nur Belastung war: Auf den Augenblick. Auf das Hier und Jetzt. Auf das Leben selbst.

„Deine Zeit ist Dir geschenkt.“ Demütig packte ich die Gegenstände wieder in die Tasche. Es war mir wichtig, dass es zusammenblieb, Dein bisschen Leben. Dass noch etwas überdauerte, wenn sich das Leben langsam selbst verlöschte.
Ich sah mich in ihrem Nähzimmer um, aus dem sie früher oft gekommen war, wenn ich zu ihr hinunterging, um nach ihr zu sehen.
Wo bist Du jetzt? Wo bist Du hingegangen, als wir an jenen Dienstag bei Dir waren und Du zum letzten Mal geatmet hast? Ein letztes Mal ein… und aus… Aus.
Ich fühlte, dass sie da war. Irgendwo hier um mich herum. Ganz dicht. Ganz nah. In ihrer alten Wohnung. An meiner Seite. Bei uns. Für immer.

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Liebe Schwiegermama,
Du wärst jetzt 94 Jahre alt geworden. Der liebe Gott hatte Dich dann aber doch nicht vergessen, wie Du so oft befürchtet hast. Es sei Dir ganz viel Zeit bei Gott geschenkt…

© Sema (Sabine Schemmann), Freie Erzählungen,  22. Februar / 15. November 2017

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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