Bürger bewaffnen sich vermehrt – Talkgäste sehen Polizei nicht in Not
Ein goldenes Händchen bei der Themenwahl hatten die Organisatoren der „Gespräche über Gott und die Welt“ in der Wattenscheider Friedenskirche. Denn noch vor der Silvesternacht stand hier das Thema „Menschen in Angst – Polizei in Not: Gerät unsere freie Gesellschaft aus den Fugen? Bei der Brisanz, die dieses Thema in den vergangenen Wochen erlangte, war eine hitzige Debatte sowohl auf dem Podium als auch im Zusammenspiel mit dem Publikum zu erwarten. Denn die Gästeliste ließ erhoffen, dass das Experten-Nähkästchen hier weit geöffnet würde. Am Ende blieb das Publikum aber doch eher mit den Ängsten und Sorgen zurück, mit denen es gekommen war. Denn trotz aller Fakten konnten die Bochumer Polizeipräsidentin Kerstin Wittmeier, Landtagsabgeordneter Serdar Yüksel (SPD), der Essener Jugendrichter a. D. Gerd Richter und Uwe Danz, stellvertretender Vorsitzender der Polizeigewerkschaft, die Gefühlslage der etwa 200 Zuhörer nicht ausreichend erreichen. Dennoch hatte die zweistündige Debattierrunde einen hohen Unterhaltungswert und viele Fakten im Gepäck.
Jeder hat sein eigenes Angstbarometer
Für die Bochumer Bürger bestehe kein Grund zur Angst und Sorge, für die Wattenscheider noch weniger, darüber war sich das Podium gänzlich einig. Es sei verständlich, dass ein Ereignis wie Köln Ängste in der Bevölkerung auslöse. „Dass die Polizei so vielen Menschen keinen Schutz bieten konnte, war für mich ein einmaliges Ereignis. Das gab es in der Form noch nicht und soll es auch nicht wieder geben. Die Diskussion hat sich seitdem verändert – ganz klar. Aber man muss jetzt trotzdem differenziert betrachten, woher die Stimmung kommt. Denn die Kriminalstatistik gibt überhaupt keinen Anhaltspunkt für die derzeitige Angst“, erklärt die Bochumer Polizeipräsidentin. In Wattenscheid mache der Anteil der Gewaltdelikte mit Körperverletzung insgesamt gerade mal 3,5 Prozent aus und in Bochum seien nur 23 Prozent aller Straftaten der Straßenkriminalität zuzuordnen. „Von der Wahrnehmung her wird aber wahrscheinlich jeder sagen, es müssten deutlich mehr sein“, ergänzt Kerstin Wittmeier. Das zeigt auch der Blick auf die Anträge eines Waffenscheins: Seit Januar bis Mitte Februar dieses Jahres seien 980 Waffenscheine beantragt worden. Gewöhnlich liege diese Zahl jährlich bei rund 200 Anträgen. Die objektive Bedrohungslage laut Statistiken und das subjektive Sicherheitsgefühl der Bürger scheinen wie aus zwei verschiedenen Welten zu stammen.
Mediale Berichterstattung für Angst verantwortlich
Für Uwe Danz sind für das Auseinanderklaffen des Sicherheitsgefühls der Bürger gegenüber der realen Bedrohungslage einzig die Medien verantwortlich: „Ich weiß, wo das herkommt. Wenn ich jeden Tag über zehn Stunden die gleichen Nachrichten höre und das über Tage und Wochen, dann ist ein einziger Überfall 20-, 30- oder gar 80-fach in meinem Kopf“, erklärt er. Auch Gerd Richter ärgert sich permanent, wie er sagt, darüber, dass nicht sachlich und fundiert über Kriminalität berichtet werde. „Wir leben in einer medial geprägten Welt, in der ständig die Schwierigkeiten des Lebens betont werden. Morde, Bomben und so weiter, das hätte man früher gar nicht mitbekommen, obwohl es die Probleme auch gab“, so der Jugendrichter. Dadurch sei über Jahre eine enorme Verunsicherung eingetreten. „Ich hoffe, der Zenit ist endlich erreicht“, sagt er. Allerdings trafen diese Meinungen auf Widerspruch aus dem Publikum: „Die Medien berichten in Sachen Kriminalität nur über das, was die Polizei als Meldung an die Presse weitergibt. Das Gefühl der Unsicherheit ist deswegen nicht medial erzeugt oder aus der Luft gegriffen. Bleibt die Frage: Was kann ich selbst tun, um mich zu schützen?“
Gerät die Gesellschaft aus den Fugen?
In kaum einer Talkrunde zu Sicherheitsthemen fehlt derzeit der Hinweis auf das Buch der Bochumer Polizistin Tania Kambouri, die die Respektlosigkeit und Verachtung gegenüber der Polizei gerade von Jugendlichen und Erwachsenen mit Migrationshintergrund bemängelt. Moderator Jörg Steinkamp fragte das Podium daher auch, ob unsere Gesellschaft zunehmend gewaltbereiter werde. „Was meine Kolleginnen und Kollegen beklagen ist eine gewisse Respektlosigkeit gegenüber Amtsträgern. Mehr Gewaltbereitschaft sehen wir nicht“, so Kerstin Wittmeier. Jugendrichter a. D. Gerd Richter sieht in der heutigen Erziehung ein großes Problem und findet es unmöglich, dass Lehrer und Polizisten mittlerweile dafür verantwortlich seien, die Jugendlichen sozialfähig zu machen. „Es braucht eine konsequente Hand. Die Kinder müssen lernen, dass sie für ihre Handlungen auch bestraft werden. Viele erleben aber mit 14 Jahren im Gerichtsaal das erste Mal, dass einer durchgreift.“ Serdar Yüksel bremste die Diskussion, indem er ein 2000 Jahre altes Sokrates-Zitat verlas, das den vorigen Redebeiträgen sehr nahe kam. Er forderte auf, nicht immer so zu tun, als sei früher alles besser gewesen. „Auch wir hatten damals Gangs und Kriminalität. Nicht zu vergessen, welcher Rechtsruck in den neunziger Jahren zu spüren war“, sagt der Politiker. Als Junge mit Migrationshintergrund habe man es gerade in Wattenscheid mit der Landeszentrale der NPD vor der Tür nicht gerade einfach gehabt.
In Bochum eher keine Überforderung der Beamten
Beim Kernthema der Diskussion – der Überforderung der Polizei – zeigten sich die Redner überwiegend optimistisch: „Die Polizei wünscht sich immer mehr Personal. Aber wir sind hier in Bochum nicht überfordert. Wir haben rund 1900 Mitarbeiter in Bochum, Herne und Witten und die sind gut ausgebildet – so kann viel aufgefangen werden“, sagt die Polizeipräsidentin klar. Die Notsituation in Nordrhein-Westfalen sei durch die Politik verursacht worden, weil in den letzten Jahren wesentlich mehr Kollegen in den Ruhestand gegangen seien, als junge Polizisten eingestellt wurden, erklärt Uwe Danz. Die Politik habe aber endlich darauf reagiert und bilde wieder vermehrt aus. „Allerdings sind die jungen Kollegen erst in drei Jahren einsatzfähig“, so Danz. Serdar Yüksel bekräftigte die positiveren Aussichten und wies darauf hin, dass in Nordrhein-Westfalen nun 2000 Polizisten ausgebildet würden. Gerd Richter bemängelte aber, dass die Polizei derzeit zunehmend Tätigkeiten übernehmen müsse, die nicht unter deren Ressort fielen wie etwa die schon genannte Erziehung von Jugendlichen oder die vielen Risikospiele beim Fußball. Landtagsabgeordneter Serdar Yüksel stellte klar: „Wir müssen auch einen Riegel vorschieben, dass andere Bundesländer unsere Hundertschaften ständig ausleihen.“ Es könne nicht sein, dass Nordrhein-Westfalen Personal aufstocke, um anderen Bundesländern beim Sparen zu helfen, so der Politiker.
Hintergrund:
Seit 2007 fördert die Talkrunde „Reden über Gott und die Welt“ den Dialog und die Verständigung unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche. In loser zeitlicher Folge diskutieren die Gäste im Plenum über Themen wie Migration, Sterbehilfe oder die Wiedervereinigung.
Autor:Harald Gerhäußer aus Bochum |
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