Als die Texte fliegen lernten ...
~ * ~ * ~
Es war eine ganz besondere Geburt,
das spürte er schon gleich zu Anfang.
Sie fand in einem Haus statt,
das er noch nie betreten hatte.
Seine Räume waren deshalb fremd.
Auch ihre Anzahl war noch nicht zu überschauen.
Aber das war erst mal nebensächlich.
Bevor er sich den Räumen widmen würde,
wollte er das Neugeborene begrüßen.
Sein Name klang ein wenig eigenwillig.
Sie hatten es „Lokalkompass“ genannt.
Lokalkompass Bochum.
Doch ja, das klang melodisch. So wie Alexander Drexler oder Annemarie Schuster.
Manchmal passten Vor- und Zuname dann doch erstaunlich gut zusammen.
Ob sie beide, ER und SIE wohl auch zusammen passen würden?
SIE? Ja natürlich SIE!
Es war ein Mädchen.
SIE war eine Plattform, an deren Rundungen man feilen durfte.
Das war ja das Verlockende.
Er war ohne Zögern Taufpate geworden, weil die Geburt ihn überzeugte
und weil er neugierig genug war, die Räume anzusehen, in die das neue Wesen einziehen würde,
um sie mit Leben auszufüllen.
Auf der Suche nach dem Taufgeschenk betrat er vorsichtig den ersten Raum.
Er lag zentral in der Mitte dieses unbekannten Hauses.
In ihm standen Tische, auf denen Unmengen von Wörtern, Bildern, Scheren und Klebstoff lagen.
An den Wänden hing eine Bordüre.
„Bürgernachrichten“ war umlaufend darauf zu lesen.
Hier also wurden sie gemacht,
aus diesen vielen Wörtern und aus Bildern.
Bürgernachrichten machte man, indem man sich die Wörter suchte, die man brauchte,
sie aneinander steckte und ein Bild zufügte.
Wenn sie so, wie sie da lagen, nicht verwendbar waren, schnitt man sie auseinander und klebte sie ganz neu zusammen, bis sie passten.
Er hatte bald verstanden, wie das ging.
Das war wie Platten legen draußen vor der Tür.
Sein Taufgeschenk war recht schnell fertig. Weil es ihn zufrieden stellte, schaute er sich auch die Nachbarräume an. Sie waren leer. In ihnen konnte er sich frei entfalten.
Voller Eifer ging er zurück in den zentralen Raum,
wühlte in den Bildern und den Wörtern,
versuchte sich an einem neuen Beitrag
und experimentierte mit der Schere und dem Klebstoff.
Manche Wörter schnitt er ganz spitz zu.
Die Nachricht aus den spitzen Worten nannte er dann Glosse.
Als er mehrere zusammen hatte, trug er sie in einem Raum zusammen und hängte sie dort an die Wände.
Manchmal sagten Bilder weitaus mehr, als Worte. Auch sie trug er in einem Raum zusammen, auf dessen umlaufender Bordüre „Schnappschuss“ zu entziffern war. Wenn es sehr viele Bilder zu einem Thema gab, trug er sie in die "Bildergalerie" und freute sich an ihnen.
Nach und nach begann er zu verstehen, dass Bürgernachrichten ganz verschiedener Art sein konnten. Es lag allein an ihm, was er aus ihnen machte.
Er konnte ganz neutral über die Ereignisse berichten, die ihn persönlich interessierten.
Er konnte aber auch in die vertiefte Auseinandersetzung mit einem Ereignis eintauchen,
das ihn emotional sehr stark berührte.
Für die Worte dieser Auseinandersetzung benötigte er jede Menge Klebstoff, damit die langen Sätze auch zusammenhielten.
Mittlerweile bekam er immer öfter Schwierigkeiten, sich kurz zu fassen.
Während SIE, die Plattform wuchs und immer schöner wurde, reichte ihm der Platz bald nicht mehr aus, das Wesen eines Beitrags zu entfalten, weil es ihm sehr wichtig war, ihm eine jeweils eigene Melodie mit auf den Weg zu geben.
Eines Tages nahm er deshalb ein Ereignis an der Hand, verließ mit ihm das Haus und durchschritt den langen Hof, der sich hinter diesem Haus der Bürgernachrichten befand. An dessen Ende hatte er vor längerem schon eine unscheinbare Tür entdeckt,
die ihn immer neugieriger machte.
Er atmete tief durch und öffnete die Tür … zu einer wunderbaren Welt:
zur Welt der freien Erzählungen und der unbegrenzten Phantasie.
Sie nickte freundlich, als er die bunte Vielfalt voller Staunen in sich aufnahm und versprach ihm, den Ereignissen eine Freiheit zu verleihen,
die ihnen jenseits dieser Tür sonst niemand geben konnte.
Wer mit einem Erlebnis, das ihm besonders eng am Herzen lag, durch diese Tür in diese andere bunte Welt trat, würde die Realität verlassen können und ihm Flügel geben, wie einem Kind,
das seinen Weg in die Welt alleine gehen durfte, um zu wachsen und sich zu entfalten.
Die Welt der freien Erzählungen und der unbegrenzten Phantasie zog ihn magisch an.
Immer häufiger öffnete er schließlich diese ganz besondere Tür, um einen Schritt hinaus zu tun und ein Ereignis behutsam auf der bunten Wiese abzusetzen.
Zu sehen, wie seine Seele sich entwickelte,
seine kleinen Flügel wuchsen
und es schließlich zusammen mit einem warmen Lufthauch glücklich in den blauen Himmel aufstieg,
war immer wieder eine ganz besondere Erfahrung.
Es stimmte so unglaublich froh,
dem Ereignis bei der Schwerelosigkeit des Fliegens zuzuschauen und das Loslassen zu spüren,
dass er schließlich immer mehr Ereignisse durch diese Tür trug, um sie auf der Wiese abzusetzen
und sie in den Himmel aufsteigen zu sehen.
Sie flogen nie allein dort oben.
Viele haben Freundschaften geschlossen, weil sie merkten, dass zwischen ihnen eine innere Verbundenheit bestand.
Es ging ihnen so gut, dass er sich oftmals schwer tat,
sich von ihrem Anblick loszureißen
und durch die Tür zurückzugehen,
um sich den anderen Beiträgen zu widmen,
die im Haus der Bürgernachrichten schon ungeduldig auf ihn warteten.
Es tröstete ihn allerdings ein wenig, dass er die Tür aufsuchen und sie öffnen konnte,
wann immer und so oft er wollte,
um hinaufzuschauen
zu diesem Teil von ihm,
der fliegen konnte.
Natürlich waren die Ereignisse immer auch ein Teil von ihm,
er hatte sie erfahren und mit Leben ausgestattet.
Aber sie bildeten ihn selbst nicht 1:1 ab,
sondern seine Kreativität.
Dort oben flogen seine Fähigkeiten wie bunte Schmetterlinge, die sich vom Wind des Sommers tragen ließen.
Eines Tages öffnete er wieder die Tür zu dieser wunderbaren Welt,
um mit Bestürzung festzustellen, dass etwas in der bunten Wiese lag
und verzweifelt mit den Flügeln schlug, um wieder in die Schwerelosigkeit hinaufzusteigen.
Doch alles Flügelschlagen half nicht, weil seine kleine Seele, der Motor seines Lebens, angestochen worden war und einen Riss bekommen hatte.
Dieses Ereignis hier war ohne Zweifel mit etwas kollidiert, das unbedacht verletzen konnte:
mit einem Leser-Kommentar.
Es passierte Gott sei Dank nicht oft, trotzdem kam es immer wieder einmal vor, dass es Menschen gab, die die Bedeutung der Schwerelosigkeit von Ereignissen auf den ersten Blick nicht nachvollziehen konnten.
Die Worte ihres Kommentars behinderten die Erzählungen beim Fliegen in der Schwerelosigkeit und sie behinderten auf diese Weise gleichermaßen die Entfaltung des Verfassers.
Einmal angestochen kam es fast zwangsläufig zum Absturz der Erzählung.
Er war traurig, als er das Häufchen Elend vor sich auf dem Boden liegen sah.
Für die Welt der freien Erzählungen und der unbegrenzten Phantasie gab es keinen Raum mit der Bordüre „Feuilleton“, weil man den Himmel nicht beschriften konnte, den die Ereignisse nun einmal brauchten, um zu fliegen. Das war die Schwierigkeit. So wie kein Mensch perfekt war,
konnte auch Lokalkompass natürlich nicht perfekt sein.
Wie sollte er denn nur die kleine Seele reparieren, damit die Flügel wieder trugen
und das Ereignis wieder fliegen konnte?
In der Tür stehend schaute er sehr nachdenklich zwischen seinen beiden Welten hin und her: zwischen der Realität
und der bunten Welt der freien Erzählungen und der unbegrenzten Phantasie.
Ihm war durchaus klar, wie diese Kollision entstehen konnte und es zum Absturz kam:
Verständnisvolle Leser-Kommentare, die in der Seele der Erzählung lesen konnten,
trugen dazu bei, dass die Flügel weiter wuchsen.
Die kleinen Ereignisse schlugen dann am Himmel manchmal sogar Purzelbäume.
Doch solche Kommentare,
die die Seele eines Beitrags auseinanderpflückten und den Verfasser darin suchten,
um dessen Persönlichkeit zu kommentieren und zu therapieren,
statt die individuelle Schöpfung zu betrachten,
die durch das freudige Zusammenstecken und Verkleben vieler Bilder und Worte entstanden war,
holten ihn vom blauen Himmel
unsanft
auf die Erde.
Er bückte sich hinunter zu dem flügelschlagenden Ereignis. Ja, er hatte Recht.
Hier hatte ein Leser-Kommentar die kleine Seele und die Flügel untrennbar mit der Person seines Verfassers verbunden und es vom Himmel heruntergeholt.
Es haftete jetzt wieder an ihm selber fest und konnte nicht mehr fliegen.
Nicht umsonst hatte er bislang nach Möglichkeit vermieden,
die vielen Wörter des zentralen Raums im Haus der Bürgernachrichten
zu einer echten „Ich-Erzählung“ zu verkleben.
Sie würde niemals fliegen können, weil sie durch das ICH immer an ihm kleben bleiben würde.
Und er selber würde dadurch einen Stempel tragen und nicht mehr glücklich werden können.
Doch dieses Glück, das er empfand, wenn er zum Himmel schaute und den Ereignissen beim Fliegen zusah, brauchte er auch selbst zum Wachsen - und zum Fliegen.
Es schien deshalb wichtig, den Menschen der realen Welt jenseits dieser Tür verständlich zu vermitteln, dass Beiträge aus der Welt der freien Erzählungen und der unbegrenzten Phantasie,
die die Rundungen der Plattform erst vollkommen machen konnten,
das Erleben des Verfassers nie 1:1 abbildeten,
sondern den Impuls gaben,
ein Ereignis durch Vervollkommnung zu etwas ganz Besonderem zu machen.
Es würde sicher nicht ganz leicht sein, diese Botschaft zu vermitteln.
Manchmal verstand man das als Leser nicht zu trennen, vielleicht war das auch nicht einfach.
Er aber musste das versuchen, damit das kleine Wesen,
das einmal so glücklich war und noch immer mit den Flügeln schlug,
endlich wieder in die Schwerelosigkeit entlassen werden und er sich wieder freuen konnte
- an dieser wunderbaren Fähigkeit, die längst nicht jeder Mensch besaß:
~~~~~~~ dem Erlebten Flügel zu verleihen ~~~~~~~
und es loslassen zu können ~~~~~~~~~
© Sabine Schemmann, Freie Erzählungen Januar 2013
Autor:Sabine Schemmann aus Bochum |
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