„Wenn nichts mehr geht“ - Seelsorgetag zum Thema Depression dankbar angenommen
Unter dem Motto „Wenn nichts mehr geht“ widmete der Evangelische Kirchenkreis Bochum am vergangenen Samstag, 15.09.12 seinen ersten Seelsorgetag dem Thema Depression.
Über 100 Interessierte nahmen den angebotenen Begegnungs- und Informationstag im Gemeindehaus der Christuskirche dankbar an.
Der äußere Rahmen, so zeigte sich sehr schnell, war wohldurchdacht und wusste die Bedürfnisse aller mittelbar und unmittelbar Betroffenen nach Information, Entspannung, intensivem Nachspüren und Austausch gleichermaßen zu befriedigen.
Eingebettet in Klaviermusik ließen die einfühlsam gewählten Begrüßungsworte, der Vortrag „Schattenzeit“, das einstündige Mittagessen, acht verschiedene Workshops, das abschließende Resümee und die Möglichkeit des Stöberns am Büchertisch den Tag zu einer positiven und Mut verbreitenden Erfahrung werden, die lange nachwirkte.
Die Wahl der Räumlichkeiten der Evangelischen Stadtakademie trug zusammen mit den verständnisvoll sensiblen Worten der Veranstalter und des Referenten schnell zur Entstehung einer geborgenen Atmosphäre bei, in der das bedrückende Thema der Erkrankung recht gut ausgehalten werden konnte. Interessanterweise stellte der Schutzraum „kirchliche Veranstaltung“ dabei einen wohltuenden Kontrast zu den bislang eher nüchtern informierenden medizinischen Bochumer Fachbeiträgen zum Thema Depression dar.
Bereits vor anderthalb Jahren war im Kirchenkreis Bochum die Idee der Ausrichtung eines Seelsorgetags zur Erkrankung Depression entstanden. In Krankenhäusern, Selbsthilfegruppen und in der Gemeindearbeit immer wieder mit Schwermut und Depressionen konfrontiert, wurde schließlich gemeinschaftlich beschlossen, ein Thema obenauf zu halten, das dringend aus einer Tabuzone herauszuholen ist.
Nicht nur die Psychiatrie, auch die Seelsorge müsse sich der Depression als einer ernsten Krankheit widmen, war man überzeugt und wollte aktiv dazu beitragen, das Thema offen zum Gespräch zu machen.
Die Seelsorge habe in besonderem Maße ein Interesse daran, den Menschen jenseits aller Diagnosen als Individuum zu sehen und nicht als „Fall“.
Es sei gerade das Besondere am Menschen, dass er sich allen umfassenden Beschreibungen entziehe.
Schließlich mache es den Menschen aus, dass er sich selbst und anderen immer ein Geheimnis bliebe. Wichtig dabei sei der Aufbau von Beziehungen, die den Menschen als Person wahrnimmt.
Mit Pfarrer Werner Posner konnte ein Referent gewonnen werden, der aus seiner langen seelsorgerischen Tätigkeit in der LWL-Klinik Bochum, als derzeitiger Leiter der Beratungsstelle bei Suizidgefährdung PRISMA und Pfarrer der Telefonseelsorge ausgesprochen sensibel und authentisch über die Erkrankung zu berichten wusste.
Er verstand es, seinem Beitrag die oft erschlagende Wucht lehrmeisterhafter Fachvorträge zu nehmen, indem er immer wieder zur Ebene Betroffener hinüberwechselte, sie durch Einflechten von Zitaten aus deren Büchern zu gleichberechtigten Partnern seines Beitrags werden ließ und dadurch ein Spüren der Erkrankung möglich werden ließ. In den Zitaten konnten sich Erkrankte wiederfinden und verstanden fühlen.
Das psychische Leiden depressiv erkrankter Menschen wirke auf das gesamte Umfeld ein. Die Gesellschaft erkranke selbst, wenn sie das Leiden Einzelner missachte; sie werde hart, wusste er schon gleich zu Anfang deutlich darzustellen. Der mit Scham belegten Krankheit werde in der Öffentlichkeit noch immer viel zu selten mit Aufmerksamkeit und Anerkennung begegnet, obwohl sie neben den Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu den schwersten Krankheiten überhaupt gehört. Die Weltgesundheitsorganisation rechne bereits jetzt damit, dass sie in wenigen Jahren zu den weltweit häufigsten Erkrankungen gehöre.
Entsprechend der Ausprägung von Depression als sehr individueller Erkrankung bei gleichzeitig sozialen Dimensionen gliederte Werner Posner seinen Vortrag in psychische, soziale und spirituelle Herausforderungen.
Sehr anschaulich wusste er von den Erkrankten zu berichten, die wie gefangen vor einem tiefen Abgrund stehen, heftige Ambivalenzen des Denkens, Fühlens und Handelns erleben, sich in einem Zustand innerer Unruhe, der Erschöpfung und der Müdigkeit befinden, ohne dass der Schlaf Erholung bringt und hilflos erleben müssen, dass sich dieser Zustand über Wochen, Monate und Jahre hinzieht.
Das automatisch ablaufende innere Erleben wird schließlich derart qualvoll, dass die eigene Vernichtung herbeigesehnt wird.
Beim sehnsüchtigen Warten auf den Tod, der die auf Körper und Seele liegende Zentnerlast zerbrechen soll, ist am Ende jedes Mittel recht.
20 % aller Betroffenen unternehmen einen Suizidversuch, wobei die Sterblichkeitsrate bei 10-20 % liegt. Fatalerweise liegt allein der Wunsch zugrunde, das eigene Ich verlassen zu können, um wieder man selber und frei von Depression zu sein, weil das eigene Ich nicht mehr ertragen werden kann.
Wichtiger als die Gründe und Auslöser der Erkrankung, die letztlich ein multifaktorielles Geschehen aus ignorierten körperlichen Signalen, Veranlagung, belastenden Kindheitserfahrungen und -trauma, organischen Erkrankungen, familiären Beziehungs- und Verhaltensmustern und belastenden Akutereignissen bilde, sei hingegen das Begreifen der psychischen Herausforderung, die sie an den Depressiven stelle:
zum einen am Leben zu bleiben und die Krankheit auszuhalten, sich zum anderen aber auch zu fragen, was sie zu sagen hat, wo man an seinen wichtigsten Wünschen vorbeilebe und von welchem Selbstbild man sich verabschieden müsse, weil es krank macht, verdeutlichte der Seelsorger.
Die soziale Herausforderung der Depression liege in der längst überfälligen Veränderung des Blickwinkels; im Begreifen dessen, dass der Erkrankte wichtige Anforderungen an die Gesellschaft stellt: Er sei es, der überdeutlich damit konfrontiert, dass die Entwicklung der Gesellschaft krank macht.
In Zeiten, in denen Flexibilität immer stärker Trumpf werde, während gleichzeitig soziale, verlässlich starke Bindungen in ihrer Bedeutung zunehmend verblassen und erwartet wird, dass ein Loslassen zwischenmenschlicher Verbindungen verkraftet werden kann, finde die Entbettung des Menschen statt. Die gefühlte Überforderung im Umgang mit der Technik, auf deren Funktionieren man kaum noch selber Einfluss nehmen könne, tut ein Übriges.
Der Erkrankte wird zu einer Zeigerpflanze, die durch ihr Reagieren Dinge sichtbar macht, die nicht mehr verträglich sind.
Da sie in ihrer Sensibilität letztlich Seismographen für ein Wachsen in die falsche Richtung seien, würden sich Zuweisungen von Schuld an Erkrankte ganz von selbst verbieten.
Die Depression auf das Vorliegen falscher Denk- und Verhaltensmuster reduzieren zu wollen, sei der falsche Ansatz. Nur die Sichtweise auf das Ganze könne Depression aus der Tabuzone herausholen und sie als Qualitätsmerkmal statt als Defekt verstehen.
Im gemeinsamen Einsatz für verträglichere Lebensbedingungen, Fürsorge und dem Schaffen von Räumen, in denen Trauer gelebt und Konflikte ausgelebt werden dürfen, könne und müsse jeder seinen Beitrag leisten.
Das Leben mit der Depression bleibt eine zwischenmenschliche Herausforderung für alle von ihr Betroffenen: wer mit Erkrankten lebt, muss spüren, wie die Schwere der Erkrankung nach ihnen greift und die Kraftlosigkeit des Kranken die Kraft der Angehörigen mit aufzehrt. Die Depression entfaltet den sie kennzeichnenden Sog.
Dem ersten Seelsorgetag des Evangelischen Kirchenkreises gebührt eine große Anerkennung. Es ist gelungen, eine Atmosphäre der Geborgenheit zu schaffen, die vielen Menschen möglich machte, sich einem schwierigen Thema anzunähern. Es ist gleichermaßen anerkennenswert, dass eine beachtliche Anzahl Menschen den Mut gefunden hat, sich dem Thema öffentlich zu stellen und sich über direkte und indirekte Betroffenheiten ohne Scham authentisch auszutauschen. Dieser Umstand wurde unter den Teilnehmern auch aufrichtig gewürdigt. Man bedankte sich für die geradlinige Offenheit Betroffener, die ohne Scheu das Wort ergriffen, um von eigenem Erleben zu berichten.
Dass neben den Impulsen aus dem medizinisch-therapeutischen Bereich auch die Kirche deutliche Impulse setzt, sich der Existenz und den Herausforderungen psychischer Erkrankungen zu stellen und eine Zuflucht anzubieten, die lebensrettend sein kann, ist ausgesprochen wichtig.
Dass die Veranstaltung im Zentrum Bochums stattfinden konnte und nicht in eine Randgemeinde weichen musste, ist ein gleichermaßen positives Zeichen dafür, dass es gelingen kann, eine sehr quälende, mindestens 10.000 Mal pro Jahr in Deutschland tödlich verlaufende Erkrankung dorthin zu rücken, wo sie hingehört: in die Mitte der Gesellschaft, in der sie öffentlich zu akzeptieren ist, um Leben wieder lebenswert zu machen.
Die Teilnehmer des Begegnungstages konnten am Samstag die wichtige Erfahrung mitnehmen, in ihren jeweiligen Betroffenheiten ernst genommen und verstanden zu werden, was sie beim Ausklang auch zum Ausdruck brachten. Fast einhellig entstand der Wunsch nach einer Wiederholung, zumal man gar nicht alle Workshops gleichzeitig belegen konnte, deren Themen brennend interessierten.
Autor:Sabine Schemmann aus Bochum |
15 Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.