Patient in Not: Das schwarze Loch in der Versorgungslandschaft depressiv erkrankter Menschen

„Psychologische Hilfe verwehrt. 49-jährige nahm sich das Leben“. So oder ähnlich hätte die Meldung des morgigen Tages lauten können, hätte sich die von der Depression betroffene Patientin, die Hilfe suchte, nicht doch noch rechtzeitig gefangen.
Sie hatte am Morgen die Praxis eines Arztes in der Innenstadt aufgesucht, der ihr vor einiger Zeit von einer Beratungsstelle als „Facharzt für psychologische Medizin“ benannt worden war, da er eine offene Sprechstunde anbietet. Dorthin könne sie sich bei Bedarf wenden, ohne monatelang auf einen Gesprächstermin warten zu müssen.

Weil sie am Morgen feststellte, dass sie dringend professionelle Unterstützung benötigte, hatte sie sich mit dem Fahrrad auf den Weg gemacht, um die Sprechstunde zu nutzen.
In der Praxis angekommen, teilte man ihr mit, es sei kein Problem, zu kommen, da nicht viel los sei. Man benötige dann dazu ihre Unterlagen.

Dass die Patientin ihre Versichertenkarte bei sich trug und die Zuzahlungsbescheinigung des Hausarztes für das Quartal vorweisen konnte, reichte der Arzthelferin nicht aus. Man brauche eine Überweisung ihres Hausarztes oder sie müsse noch einmal 10,- € zahlen, die sie dann zurück erhalten könne, wenn sie eine Überweisung vorlege, teilte sie der Kranken mit.
Dies zu verstehen, überstieg die Kraft der Frau, deren innere Verwundungen sie zu zerfressen drohten. In emotional aufgewühltem Zustand verließ sie fluchtartig die Praxis an der Hauptverkehrsstraße, griff ihr Fahrrad und fuhr davon. Dass ihr nichts passiert ist, grenzt an ein Wunder. Daran, ob sie auf ihrer Fahrt durch den Irrgarten der psychologischen Versorgungslandschaft rote Ampeln überhaupt beachtet hatte, konnte sie sich hinterher nicht mehr erinnern.

Dieser Vorfall des Morgens grenzt an unterlassene Hilfe und weist auf die noch immer klaffende Lücke in der Versorgung psychisch kranker Menschen hin, denen etwas abverlangt wird, was sie in einer akuten Phase ihrer Erkrankung nicht grundsätzlich leisten können.
Die Versorgung eines psychisch Kranken darf nicht von 10,- € oder einem Überweisungsschein abhängig gemacht werden, wenn dieser seine Karte bei sich hat und den Beleg, dass die Quartalsgebühr bezahlt ist.
Wird er wegen 10,- € oder der fehlenden Überweisung abgewiesen, die er am frühen Morgen nicht noch erst besorgen kann, wenn er die Sprechstunde nicht versäumen möchte, kann ein Todesurteil für ihn sein.

Die Form der Erkrankung mit ihren vielfältigen Symptomen lässt es nicht zu, heute schon zu wissen, dass man morgen in einer derart tiefen Krise stecken wird, dass man direkte Ansprache benötigt, und entsprechend mit „Papierkram“ vorzusorgen.
Es repräsentiert des weiteren auf deutliche Weise die Hilflosigkeit und Unsortiertheit eines von der Depression betroffenen Menschen, der in einer Phase akuten Bedarfs nach professioneller psychologischer Unterstützung nicht erst in der Lage ist, zu überlegen, was er eventuell benötigt, um in einer offenen Sprechstunde aufgefangen zu werden, die von der Praxis selbst in einer bereits vorsorglich telefonischen Rückfrage als „Notfallsprechstunde“ bezeichnet wurde.

Die Erfahrungen zeigen, dass wir noch immer in einer Welt leben, in der Bestimmungen und Abläufe auf den gesunden Menschen ausgerichtet sind und in der gesunden Behandelnden der Blick für Notlage des Kranken fehlt, weshalb dieser mangels Verständnis nicht selten durch die Maschen eines als „eng“ bezeichneten Versorgungsnetzes fällt.

Es dürfte die Selbstmordrate kaum senken, depressiv erkrankte Menschen mit Hürden zu konfrontieren, die sie aus ihrer Erkrankung heraus nicht nehmen können. Hier ist noch viel Aufklärung erforderlich.

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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