Keine Pause vom Schmerz – Welche Rolle spielt Angst bei chronischen Schmerzen?
Emilia Thimm* hat seit zehn Jahren Kopfschmerzen. Anfangs traten die Beschwerden unregelmäßig auf. Heute – mit 16 Jahren – hat die Schülerin chronische und sogar ständige Schmerzen. Schmerzmittel, Akupunktur und Sport helfen ihr nicht. Ein verhaltenstherapeutischer Ansatz von Wissenschaftlern des Forschungs- und Behandlungszentrum der Ruhr-Universität (FBZ) und der Universitäten Trier und Greifswald könnte helfen, ihr Schmerzlevel langfristig zu senken.
„Chronische Schmerzen sind ein sehr großes Problem in unserer Gesellschaft. Migräne und durch Medikamente verursachte Kopfschmerzen sind die dritthäufigste Ursache für Behinderungen. An erster Stelle stehen Rückenschmerzen, an zweiter Stelle Depressionen“, erklärt Piotr Gruszka aus der Arbeitseinheit Klinische Kinder- und Jugendpsychiatrie am FBZ. Die Schmerzen führen häufig zu starken Beeinträchtigungen im Alltag der Kinder und Jugendlichen. Etwa in der Schule, wenn Fehlstunden und Konzentrationsschwächen beim Lernen dazu führen, dass die Noten schlechter werden. Zudem stellen Kopfschmerzen im Kindesalter ein erhöhtes Risiko für Kopfschmerzen im Erwachsenenalter dar. Auch regelmäßige Bauchschmerzen im Kindesalter können Vorboten für andere Schmerzstörungen und psychische Störungen sein.
Unzählige Arztbesuche hat auch Emilia Thimm hinter sich. „Man fühlt sich schon allein gelassen damit. Klar, es wird einem das Übliche geraten: Sport, Akupunktur, Aktivität. Wenn das alles nicht hilft, ist man am Ende alleine“, schildert Emilias Mutter. Angefangen hatte bei Emilia alles in der ersten Klasse. „Ich selbst wusste das gar nicht mehr, aber meine Freundinnen haben mir erzählt, dass mich die Lehrer damals schon ans Fenster schickten, damit die Kopfschmerzen weggehen“, erzählt Emilia. Damals traten die Schmerzen nur selten auf. Mittlerweile hat Emilia immer Kopfschmerzen. Manchmal und in letzter Zeit immer häufiger bekommt sie auch Ohren- und Augenschmerzen. Seit Februar macht sie eine Verhaltenstherapie im Zentrum für Kinder- und Jugendpsychotherapie des FBZ in der Massenbergstraße 9-13. Sie erwartet davon kein Wunder, aber mit ihrer Therapeutin hat sie sich ein Ziel gesetzt: „Zu Beginn haben wir auf einer Skala von eins bis zehn definiert, wie stark meine Schmerzen im Extremfall sind. Wenn ich also ständig eine zwei habe und bei starken Schmerzen eine acht, ist mein Ziel, diese auf eine sechs zu senken“, erklärt Emilia.
Um zu diesem Erfolg zu kommen, sei es wichtig, mit der Angst vor den Schmerzen umgehen zu lernen. „In unserem Forschungsprojekt schauen wir uns vor allem die Angst an. Wenn man Schmerzen hat, verursachen diese akuten Schmerzen normalerweise Angst. Angst vor diesen Schmerzen. Wir gehen davon aus, dass diese Angst dazu beiträgt, dass die Schmerzen chronifiziert werden. Wir schauen uns vor allem an, ob Kinder und Jugendliche tatsächlich eine stärkere Angstreaktion auf ursprünglich neutrale Reize haben“, sagt Piotr Gruszka, der die Studie durchführt. Dafür werden elektrophysiologische Messungen vorgenommen, die Herzrate, der Hautwertwiderstand und der Lidschlagreflex gemessen. „Falls unsere Annahme stimmt, wäre es für zukünftige Behandlungen wichtig, diese Ängste vor Schmerzen schon im Kindesalter zu behandeln“, sagt der Psychologe.
Kinder und Jugendliche, die an der Studie teilnehmen, können die therapeutischen Angebote des FBZ in Anspruch nehmen. Sie lernen in einer Verhaltenstherapie, anders mit dem Schmerz umzugehen. Denn die meisten Schmerzpatienten stecken in einem Teufelskreislauf: Wenn der Schmerz auftritt, reagieren sie mit Angst („Hilfe der Schmerz ist wieder da“). Sie katastrophieren. Dies erhöht die Angst vor erneuten Schmerzen. Deswegen werden viele Aktivitäten, die den Schmerz auslösen könnten, zukünftig vermieden. Dabei sei es umgekehrt, je weniger man unternimmt, desto sensibler werde man für Schmerzen, Stress und Ängste, erklärt der
Psychologe.
Emilia hat sich nie in die Passivität begeben. „Ich habe eigentlich immer alles gemacht – auch Sport. Die Schmerzen werden bei mir stärker, wenn ich viel lernen muss oder in einer Klausur sitze. Dann übertönen die Schmerzen meine Gedanken. Ich muss dann manchmal aus dem Raum gehen“, erzählt sie. Einmal, nach einer langen Akupunktur-Therapie, war sie für einen kurzen Moment schmerzfrei. Aber es blieb bei dem Moment.
Möglichst schon im Kindesalter mit der Behandlung chronischer Schmerzen zu beginnen, sei sehr wichtig. Da sich in diesem Alter die Erinnerungen an Schmerzen als sehr starke Ängste festsetzen können. „Wenn man dann im Erwachsenenalter schon zehn oder zwanzig Jahre chronische Schmerzen hatte, ist die Erfolgswahrscheinlichkeit wesentlich niedriger, als wenn man schon im Kinder- oder Jugendalter gegensteuert“, erklärt Piotr Gruszka. Auch wenn Emilia Thimms Schmerzen chronisch sind und es sein könnte, dass die Schmerzen für immer bleiben werden, wirkt sie trotzdem nicht wie jemand, der sich unterkriegen lässt. Sie geht offen und realistisch mit ihrer Erkrankung um. Auch in die Entspannungsverfahren und Bewältigungsstrategien, die sie in der Therapie angeboten bekommt, hat sie sich bereits gut eingearbeitet und erklärt diese souverän. Dass sie dabei dauerhaft Schmerzen hat, vergisst man als ihr Gegenüber leicht.
Mit der Grundlagenforschung wollen die Wissenschaftler der drei Universitäten dazu beitragen, dass zukünftig für Kinder und Jugendliche bereits in der Kindheit passende Behandlungsmethoden bereitstehen. Damit sich die Angst vor dem Schmerz nicht festsetzt und Schmerzen nicht chronisch werden.
* Der Name wurde von der Redaktion geändert
Weitere Informationen
- Für die aktuelle Studie werden Kinder und Jugendliche im Alter von 11 bis 18 Jahren mit regelmäßigen Bauch- oder Kopfschmerzen gesucht.
- Kinder und Jugendliche, die an der Studie teilnehmen, können therapeutische Angebote des Zentrums für Kinder- Jugendpsychotherapie (KiJuPZT) in Anspruch nehmen.
- Unverbindliche Informationen gibt es unter Tel.: 3223816 oder per E-Mail via schmerzstudie@rub.de
- Bei einer offenen Sprechstundenwoche vom 12. bis 16. September im KiJuPZT können Eltern sich über Hilfe- und mögliche Behandlungsangebote (nicht nur bei Schmerzen) informieren.
Autor:Harald Gerhäußer aus Bochum |
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