Den entspannten Umgang mit Risiken lernen
,Den Bürgern die Kunst des Entscheidens und den entspannten Blick auf Risiken nahezubringen, ihnen im Umgang mit Statistiken und Wahrscheinlichkeiten Kompetenzen zu vermitteln und dadurch die Kommunikation untereinander zu verbessern, ist die besondere Fähigkeit und Aufgabe von Prof. Dr. Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.
Unter dem Titel „Risikokompetenz – informiert und entspannt mit Risiken umgehen" gestaltete er am Mittwoch, 01.02.12 die Abschlussveranstaltung der aktuellen Wintersemester-Staffel von „Hörsaal-City“ im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets, die sich als Bürgervorlesung über acht Vortragsveranstaltungen hinweg dem Oberthema „Angst und Risiko im Wechselspiel zwischen Person und Gesellschaft“ widmete.
Prof. Gigerenzers Tätigkeit ist dabei gleichermaßen auf den interessierten Bürger, wie auf Experten verschiedener Branchen und auf die Beratung von Politikern ausgerichtet. Die Kritik des Communicator-Preisträgers 2011 der Deutschen Forschungsgemeinschaft gilt dabei der Bildung. Er fordert, den Umgang mit Risiken und Unsicherheiten zum Kern der Wissensvermittlung der modernen technologisch ausgerichteten Gesellschaft zu machen. Risiko-Kommunikation sei einfach zu erlernen, werde aber bisher an Schulen und Universitäten kaum gelehrt.
Wir lebten in einer Welt, in der Lesen, Schreiben und statistisches Denken verlangt werde, dem Bürger jedoch der richtige Umgang mit Risiken und Unsicherheiten fehle, konstatierte er gleich zu Beginn. Es sei immer wieder feststellbar, dass Informationen häufig nicht oder völlig anders verstanden würden, als der Kommunizierende es meine, da Informationen missverständlich vermittelt würden. Es fehle den Experten das Training, Unsicherheiten des Gegenübers zu verstehen, weshalb es oft zu vermeidbaren Schuldzuweisungen käme.
Risiko-Kommunikation habe damit zu tun, wie Informationen vermittelt würden. Viele Laien, Experten und Politiker könnten Risiken nicht einschätzen. Es werde aber auch häufig systematisch irreführend, statt verständlich informiert und dem Bürger fehle das Verständnis dafür, in welcher Weise durch Medien Ängste geweckt würden. Dies zu durchschauen und Abhilfe zu schaffen sei einfach, wenn man sich einige Prinzipien zu eigen mache.
Wie in Verbindung mit empfundenen Wahrscheinlichkeiten geschürte Ängste zu Verhaltensänderungen führen und was sie nach sich ziehen, machte der Referent zunächst am Beispiel des 11. September deutlich.
Nach den Anschlägen auf die Twin-Towers verloren 1.600 Amerikaner dadurch ihr Leben, dass sie im Folgejahr in dem Versuch, ihr Leben vor terroristischen Anschlägen zu retten, auf das Fliegen verzichteten. Sie fuhren statt dessen weite Strecken mit dem Auto, was vermehrt zu Unfällen führte, bei denen sie ihr Leben ließen.
Auf diese Weise schlug der Terror zweifach zu: Durch den Anschlag selbst und durch die daraus folgenden Ängste. Das eigentliche Problem sei ein psychologisches: Das Sterben vieler Menschen in einem kurzen Zeitraum und die damit gefühlt erhöhe Wahrscheinlichkeit betroffen zu sein, erhöhe automatisch die Angst.
Die Tatsache, dass über ein Jahr verteilt ebenso viele Menschen auf andere Weise sterben, wie vergleichsweise durch ein verstörendes Großereignis, löse hingegen keine Angst aus.
Um kompetent mit Risiken umzugehen und unangebrachten Ängsten vorzubeugen, gelte es im Wesentlichen vier Aspekte zu beachten:
1. Der Umgang mit Einzelfall-Wahrscheinlichkeiten
Die Handhabung von Wahrscheinlichkeitsangaben macht die Problematik des Kommunizierens von Sachverhalten in besonderem Maße deutlich. Ob es sich um die Angabe von Regenwahrscheinlichkeiten oder um die Wahrscheinlichkeit des Eintretens von Nebenwirkungen einer Behandlung handelt, die Vermittlung der Daten erfolgt missverständlich, wenn Prozentzahlen Verwendung finden.
Das Fehlen einer festen Bezugsgröße und der Verzicht auf absolute Zahlen und somit auf „absolute Risiken“ trage dazu bei, ängstlich anzunehmen, man könne selbst betroffen sein. Dieses „relative Risiko“ führe zu unnötiger Panik.
Prof. Gigerenzer brachte Beispiele. Die Aussage: „Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Nebenwirkungen bei Einnahme des Medikaments liegt bei 30 – 50 %“,lässt den jeweiligen Patienten automatisch annehmen, die Wahrscheinlichkeit des Eintretens liege auf ihn selbst bezogen bei 30-50%. Ohne Bezugsangabe erzeugt die Aussage in jedem Fall eine gefühlt direkte Betroffenheit des Patienten selbst.
Lautet die Aussage hingegen: „Bei 10 meiner Patienten sind 3-5 von ihnen durch Nebenwirkungen betroffen“, wird die Wahrscheinlichkeit der eigenen Betroffenheit völlig anders eingeschätzt, da sie automatisch den anderen Patienten zugewiesen wird.
Im Umgang mit Einzelfall-Wahrscheinlichkeiten sei es eine traurige Tatsache, dass so wichtige Berufsgruppen wie Anwälte und Richter risikoblind seien, da in Prozent ausgedrückte Wahrscheinlichkeiten nicht richtig verstanden und daher fehlinterpretiert würden, was fatale Auswirkungen auf den Ausgang von Gerichtsverfahren haben könne, wies der Referent auf eine entscheidende Problematik hin.
Gehe es z.B. um die Wahrscheinlichkeit des zufälligen Zusammentreffens einer DNA-Übereinstimmung zwischen Täter-DNA und am Tatort gefundener DNA-Spuren, sei gerade hier das richtige Verstehen einer getroffenen Expertenaussage von entscheidender Bedeutung für das Strafmaß.
Die Expertenaussage „Die Wahrscheinlichkeit, dass diese DNA-Übereinstimmung zufällig zustande kommt, liegt bei 1:100.000“, sei wegen des Fehlens der absoluten Zahl und der Bezugsgröße missverständlich und könne kaum gedeutet werden.
Werde jedoch ausgesagt: „Unter je 100.000 Personen wird sich bei einer Person eine Übereinstimmung zeigen“, könne die Wahrscheinlichkeit, den Täter überführt zu haben, ganz anders eingeschätzt werden.
Die Auswirkungen für einen Angeklagten können folglich je nach Aussage entscheidend positive oder negative Folgen haben.
Gehe es um die Abfrage von Wahrscheinlichkeiten, solle immer nach „absoluten Zahlen“ gefragt werden, sofern Prozentangaben angeboten werden, empfahl der Wissenschaftler.
2. Der Umgang mit bedingten Wahrscheinlichkeiten
Bedingte Wahrscheinlichkeiten bewirken eine „Illusion von Gewissheit“. Dies wird speziell im Umgang mit dem AIDS-Test deutlich, der im Zusammenhang mit Untersuchungsergebnissen eine Gewissheit behauptet, wo sie nicht gegeben ist.
Ein positives Testergebnis bedeute lediglich, dass eine Infektion stattgefunden habe, jedoch nicht, dass man zwangsläufig an AIDS erkrankt sei und das Ende des Lebens bevorstehe, führte Prof. Gigerenzer aus.
Ohne derartiges Wissen werde die eigene Lebensperspektive falsch eingeschätzt, es komme unnötig zu Verunsicherungen des Patienten und zu psychischen Belastungen. 80% der Ärzte, so Prof. Gigerenzer, verstünden ihre eigenen Testergebnisse nicht, die Ausbildung an den Fakultäten versage hier völlig.
Es sei dringend erforderlich, dass statt „bedingter Wahrscheinlichkeiten“ die „natürliche Häufigkeit“ Eingang in die evidenzbasierte Medizin finde, damit z.B. auch durchgeführte Studien die richtige Deutung erführen.
3. Der Umgang mit relativen Risiken
Das Hantieren mit „relativen Risiken“ ist speziell im Umgang mit der Frau als einem dankbaren Objekt medizinischer Untersuchungen und angsterzeugender Krankheitsvisionen zu verdeutlichen. Das Motiv, mit ihnen zu kommunizieren, sei nicht, zu helfen, sondern zu lenken, was sich in besonderer Weise am Mammographie-Screening zeige, führte der Referent unumwunden aus.
Hier diene die Veröffentlichung von Prozentzahlen nicht der offenen Aufklärung über Schaden und Nutzen, sondern der Anhebung der Teilnehmerzahlen an den Untersuchungen.
Ohne Screening würden 5 von 1.000 Frauen, mit Screening 4 von 1.000 Frauen an Brustkrebs sterben. 50-200 von 1.000 Frauen würden dabei jedoch einem falschen Alarm unterliegen und darunter psychisch unnötig stark leiden. 2-10 Frauen ließen eine völlig unnötige Behandlung über sich ergehen, durch die sie einen Schaden davontragen, wurde den Zuhörern in aller Deutlichkeit nahe gebracht.
Die Art der Informationspolitik gehe gerade hier deutlich dahin, durch Hantieren mit Prozentzahlen nicht aufklären zu wollen, sondern die Teilnehmerrate am Screening zu erhöhen. Durch bewusste Irreführungen werde die Öffentlichkeit systematisch fehlinformiert.
Dabei machten sich die medizinischen Fachzeitschriften den Trick zunutze, die Vorteile einer Behandlung durch „relative Risiken“, also in Prozentangaben auszudrücken, während dem Leser die Nachteile durch Angabe transparenter Zahlen als „absolute Risiken“ präsentiert würden. Dadurch erschienen die Nachteile bzw. Nebenwirkungen einer Behandlung weit geringer, während die Vorteile zu überwiegen scheinen. Es komme zu einer Umkehr bzw. einer Verzerrung von Fakten.
Es erging daher die dringende Empfehlung an die Teilnehmer, statt relativer Risiken immer absolute Risiken abzufragen, wenn es um die Empfehlung von Behandlungs- und Untersuchungsmethoden geht.
4. Der Umgang mit Überlebensraten
Gerade durch Hantieren mit der Überlebensrate beim Anwenden von Behandlungsverfahren oder Vorsorgeuntersuchungen werde durch verwendete Prozentangaben schöngeredet, kritisierte Prof. Gigerenzer. Es gebe bei den Patienten kein Training im Verstehen der Evidenz. Deshalb werde geglaubt, das eigene Leben sei gerettet worden, weil man Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch genommen habe.
Tatsächlich aber verhindere die Untersuchung nicht die Entstehung der Erkrankung, da es keine Vorsorge sei, sondern lediglich die Früherkennung einer Erkrankung, die längst eingetreten sei.
Die Evidenzlage, ob Früherkennung wirklich helfe, die Sterblichkeit zu verringern, sei zu dünn, um realistische Aussagen treffen zu können. Statt nach der Überlebensrate solle die Mortalitätsrate abgefragt werden. Nur so lasse sich einschätzen, wie sinnvoll eine Vorsorge tatsächlich sei.
Es brauche Mut, zum Arzt zu gehen und absolute Fakten wissen zu wollen und es brauche Mut, ein an der Nase herumführen nicht zuzulassen. Im Übrigen sei wichtig, zu wissen, dass ca. die Hälfte der Krebserkrankungen verhaltensbedingt seien, ausgelöst z.B. durch Rauchen, Alkoholkonsum und Fettleibigkeit.
Das eigene Verhalten zu ändern, senke das Risiko einer Erkrankung, das der Gang zur Vorsorge hingegen nicht senken könne, da die Erkrankung bei Erkennen bereits eingetreten sei.
Fakt sei, dass mit und ohne Wissen und / oder Behandlung gleichermaßen an Krebs gestorben werde, wobei der mit dem Wissen um die Erkrankung Behandelte durch die hinzukommende psychische Komponente einer vergleichsweise stärkeren Belastung ausgesetzt ist.
Der insgesamt lebendige und bürgernahe Vortrag des Berliner Wissenschaftlers bestätigte letztlich auch die Ahnung der interessierten Zuhörer, dass das Zurückhalten aussagekräftiger Informationen und Fakten und das Hantieren mit unkonkreten Wahrscheinlichkeiten dazu dient, Verunsicherungen des Bürgers zu vermeiden, die eigenen wirtschaftlichen Interessen zuwiderlaufen könnten.
Autor:Sabine Schemmann aus Bochum |
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